Streich sollte sein böses Alter Ego in Rente schicken
Von Oskar Beck | Veröffentlicht am 10.09.2017 | Lesedauer: 4 Minuten
Freiburgs Yoric Ravet sah gegen den BVB die erste rote Karte nach Videobeweis. Trainer Christian Streich rastete an der Seitenlinie aus. Eine Aktion, die so gar nicht zum Gerechtigkeitsfanatiker passt.
Aus den vielen zündenden Gedanken, mit denen Christian Streich den Fußball bereichert, ragt der Satz heraus: „Man verändert sich immer, weil man hat ja Stoffwechsel. Man ist ja nicht tot.“
Nein, er ist nicht tot.
Lebhafter als der Freiburger Trainer am Samstag kann gar keiner sein. Was für ein Auftritt. Fünfarmig hat er gestikuliert und geschimpft, in Großaufnahme hat uns das Fernsehen seinen hämischen Applaus und die dazugehörige Fratze übertragen, mit lodernder Leidenschaft machte er das Publikum narrisch. Vom Schiedsrichter Benjamin Cortus über den vierten Unparteiischen Florian Badstübner bis hin zur Dortmunder Bank durfte sich jeder angesprochen fühlen und zitternd die Frage stellen, wem Streich mit dem Hintern ins Gesicht springt – und wem an die Gurgel.
So ein Aggressionsabbau soll in Einzelfällen verblüffend gesund sein, aber eine beunruhigende Frage bleibt trotzdem noch offen: Welches grässliche Unrecht muss einem besonnenen Menschen widerfahren, dass ihn dermaßen der Teufel reitet? Die Antwort ist brutal. Sie passt nicht zu Streich. Denn eigentlich ist Streich gerecht.
Aber vor allem ist er auf beiden Augen nicht blind, und deshalb hat er am Samstag nach knapp einer halben Stunde folgende Szene messerscharf gesehen: Yoric Ravet, sein Franzose, tritt zu wie ein Pferd, mit offenem Huf, voll aufs Sprunggelenk, und Marcel Schmelzer, der Dortmunder, brüllt und krümmt sich. Gelb zeigt der Schiedsrichter, aber weil es für die Wahrheitsfindung im Fußball neuerdings nichts Gerechteres gibt als den Videobeweis, erhöht er die Strafe nach einem kurzen Telefonat auf Rot.
Streich hätte in dem Moment mit einem anerkennenden Nicken sein Einverständnis erklären können, denn er mag, oft hat er es bewiesen, den anständigen Fußball tausendmal mehr als böse Buben, die andere mit der offenen Sohle ins Krankenhaus treten. Doch was tut er stattdessen? Er klatscht, hämisch. Man hat spontan an den berühmten Angeklagten denken müssen, der sich einmal beim Richter entrüstet beschwerte: „Der Tote ist mir ins Messer gerannt.“
Nein, die Dortmunder waren nicht schuld. Trotzdem hat Streich keine Mühe gescheut, um diesen Eindruck zu stützen. Nicht dem Schiedsrichtergespann habe sein fragwürdiges Klatschen gegolten, betonte er hinterher ausdrücklich. Neugierig bohrte einer nach: Wem dann? „Jemandem von Schalke 04“, antwortete Streich.
Der Schiedsrichter pfiff richtig gut
Er hat ja diesen schrulligen Witz, den viele an ihm lieben, aber in dem Moment kam sein Erste-Hilfe-Humor eher etwas gequält daher. Denn was wollte Streich diesem BVB-Jemand (bei dem es sich angeblich um den Sportdirektor Michael Zorc handelt) vorwerfen? Dass er von der Bank aus vehement einen Platzverweis forderte, statt sich höflich zu bedanken für den gestreckten Huf des Freiburgers?
„Kein Rot war das, sondern Dunkelrot“, sagte Zorc später, „und Streich hätte sich mehr darum kümmern sollen, wie die Verletzung zustande gekommen ist.“ Während Schmelzers Sprunggelenk auf der Trage die letzte Ölung erhielt, bevor man den Versehrten bestattungsreif ins Freiburger Uni-Klinikum abtransportierte, schimpfte Streich wie ein Rohrspatz und erreichte einen erstaunlichen Grad der Unsportlichkeit beim Überliefern der Botschaft: Mit uns kann man es ja machen.
Danach war dieser Samstag im Schwarzwald für den Schiedsrichter nicht mehr sonderlich schön. Dabei pfiff der Sportskamerad Cortus richtig gut, und vor allem nicht gegen die Freiburger. Kurz vor Schluss hätte er nach einem Foul am Dortmunder Sokratis zum Beispiel auf Vorteil entscheiden können, aber er entschied sich für Nachteil und pfiff das 0:1 (Zorc: „Ein reguläres Tor“) durch Aubameyang zurück. Und als der Freiburger Stenzel dem Dortmunder Piszczek mit dem Arm im Strafraum ans Auge ging, entschied der Schiedsrichter samt dem großen Videobruder in Köln auch noch mal auf Gnade vor Recht.
Hat da Streichs Protest Wunder gewirkt? Greift auch dieser Vorbildliche, wenn Not am Mann ist, zu den üblichen Mitteln der Zunft? Oder, und jetzt kommt’s: War er es womöglich gar nicht? Hat er sich einen schönen Samstag gemacht und von einem Double vertreten lassen?
Nein, das war nicht Streich.
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