Kneer. Unschlagbar.
https://www.sueddeutsche.de/sport/joach ... -1.5119273Weiter so, Jogi?
Ja, der Bundestrainer darf trotz des titanicartigen 0:6 in Sevilla im Amt bleiben. Dennoch könnte der Abend weitreichende Folgen haben: Der Verband bekennt sich eher zu Löws Weg - als zu Löw als Trainer.
Von Christof Kneer
Wahrscheinlich kommt Joshua Kimmich mit dem Schreiben jetzt gar nicht mehr hinterher. Viele seiner Mitspieler haben zuletzt ja nahezu identische Geschichten erzählt, und sie haben sie immer mit einer Art von Amüsement erzählt, in der sehr viel Respekt steckte. In diesen Geschichten hat Kimmich seinen Mitspielern immer WhatsApp-Nachrichten geschickt, in denen er quasi Zensuren verteilte. Zum Beispiel hat er dann Serge Gnabry oder Julian Brandt nach einem Spiel wissen lassen, welche ihrer Szenen nicht so toll waren, aber meistens hat er seine Nachrichten mit einer Motivationsfloskel beendet. Weiter so, Serge! Beim nächsten Mal noch besser, Julian!
Ob Kimmich an diesem Mittwoch wohl auch was schreibt, obwohl er am Dienstag gar nicht mitgespielt hat? Kimmich hätte Zeit, er ist gerade verletzt, aber man würde ihn aus der Ferne gerne bitten, vielleicht lieber doch nichts zu schreiben. Er müsste ja so viel schreiben, dass er keine Zeit mehr für seine Rehabilitation hätte. Und was sollte er auch schreiben? Beim nächsten Mal noch besser, Leroy? Weiter so, Jogi?
Es gibt Thesen, die man ausgezeichnet aufstellen kann, weil keiner das Gegenteil beweisen kann, hier kommt eine davon: Mit Kimmich im Mittelfeld hätte die DFB-Elf nicht 0:6 in Spanien verloren. Lieber hätte Kimmich vorher einen Gegenspieler umgerempelt oder vielleicht auch einen Mitspieler, oder er hätte irgendein Tor geschossen, oder er wäre rausgerannt, hätte sich das Telefon irgendeines Unbeteiligten geschnappt, also des Bundestrainers zum Beispiel, und hätte dem Linksverteidiger Max eine WhatsApp geschrieben. Achte auf Spieler in deinem Rücken, Philipp!
Also, These: Mit Kimmich wäre das nicht passiert. Nur: Ändert das irgendetwas an der Betrachtung dieses Abends? Und: Bräuchte es im Angesicht eines derart titanicartigen Untergangs anstelle eines Spielertrainers nicht eher einen Trainer?
Ein 0:6 in Spanien ist nach Branchenlogik schwer verzeihlich
Es gibt im deutschen Fußball die Schmach von Cordoba (1978), es gibt die Schande von Gijon (1982), und es gibt - viel aktueller, aber weniger im Gedächtnis - die Katastrophe von Kasan. Im Juni 2018 ist die Nationalmannschaft einem Spiel sanft entschlafen, 0:2 verlor sie gegen Südkorea und schied damit erstmals in einer WM-Vorrunde aus; auch die nun sehnsüchtig zurückgewünschten Mats Hummels und Thomas Müller spielten damals übrigens mit und Jérôme Boateng nur deshalb nicht, weil er gerade gesperrt war.
Und was war jetzt dieses 0:6 gegen Spanien? Der Skandal von Sevilla?
Ja, es war nur Nations League, ein Wettbewerb, den Joachim Löw und Toni Kroos nicht sehr schätzen, was beide an diesem Abend tadellos zum Ausdruck brachten. Dennoch könnte es ein Abend mit weitreichenden Folgen sein. Zwar haben sie beim DFB am Mittwoch bei einer Zwischenlandung in München eine Art Schnelltest anberaumt, der vorerst negativ ausfiel (keine Entlassung des Bundestrainers, kein Rücktritt, Löw bleibt), aber unabhängig davon drängt sich eine Diagnose auf: Löw dürfte seit Dienstagabend an einem Image- und Vertrauensverlust erkrankt sein, der zumindest unter dem Eindruck dieses 0:6 schwer heilbar zu sein scheint.
Zwar war dieses 0:6, was Ergebnis und Spielverlauf anbetrifft, tatsächlich jener einmalige Blackout, den Manager Oliver Bierhoff und Präsident Fritz Keller bei der Krisenkonferenz am Flughafen offenbar geltend machten. Aber wer aufs große Bild schaut, wird nicht umhin kommen, die Katastrophe von Kasan und den Skandal von Sevilla zusammen zu begreifen. Für Löw war das ein Doppelschlag, weil dieses 0:6 ihm fachlich und emotional jene Argumente nimmt, die er nach der verunglückten WM für sich in Stellung gebracht hatte.
Auch die Leute im Umfeld des Teams haben dieses Narrativ zuletzt ja gerne in Umlauf gebracht und vielleicht sogar daran geglaubt: Dass es Löw noch mal erfrische, mit einem jungen Team in den nächsten Zyklus zu ziehen, dass das junge Team Löws alte Sportlehrer-Reflexe wiederbelebe - und überhaupt, dass er das ja schon mal bewiesen habe, im Juni 2017, als er mit einem ebenfalls jungen Team den sogenannten Confed Cup gewonnen habe. Für alle, die damals eine rauchen waren: Der Confed Cup ist eine Art Nations League unter den Turnieren und inzwischen abgeschafft.
Es ist ja so: Ein 0:6 in Spanien - vor allem so ein 0:6 in Spanien - ist nach Branchenlogik zwar schwer verzeihlich, zu furchterregend war der Qualitätsunterschied, und selbst der einzige deutsche Torschuss an diesem Abend war eher eine Art Wutanfall von Serge Gnabry, der versehentlich an der Latte landete. Dennoch ließen sich ohne größeres Suchen auch entlastende Argumente finden: Das Tor zum 0:1, das das Spiel in eine fatale Richtung lenkte, war kein Dokument der Unterlegenheit, es fiel nach einem Eckball; die Automatismen im deutschen Umbruchteam können nach der Corona-Pause noch nicht wirklich geschärft sein; die Spieler haben ein paar anstrengende Wochen hinter sich; und zu ersetzen war ja nicht nur der unersetzliche Kimmich. Auch der Jungstar Kai Havertz fehlte, ebenso der Innenverteidiger Antonio Rüdiger sowie die Außenverteidiger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg, was nicht so nebensächlich ist, wie es klingt. Beide spielen mit Leipzig seriös in der Champions League, und Halstenbergs Mitwirken hätte Philipp Max die Erkenntnis erspart, dass es auf diesem Niveau eben nicht ausreicht, jahrelang in Augsburg scharfe Flanken geschlagen zu haben. Und hätte Matthias Ginter nicht ersatzweise außen, sondern innen verteidigen dürfen, wäre es wohl kaum zum Einsatz von Jonathan Tah gekommen, dessen irrlichternde Tapsigkeit in keiner Sekunde mehr an den Verteidiger erinnert, der er mit 20 mal zu werden versprach.
Ja, die Branche könnte dieses 0:6 verzeihen, so gesehen. Aber, und jetzt kommt's: Verzeihen kann man halt nur dann, wenn man noch genügend Urvertrauen in den zuständigen Bundestrainer besitzt. Das ist für Löw tatsächlich bedenklicher als das Ergebnis: dass den Leuten allmählich der Glaube daran abhanden kommt, dass dieser immer noch sehr verdienstvolle Weltmeistertrainer für seine begabte Elf noch mal die passenden Lösungen finden könnte. Löw hat beim DFB mal als Taktikexperte Karriere gemacht, er war die Kehrseite des feurigen Jürgen Klinsmann, aber für einen Taktikexperten war das Spiel in Sevilla und waren überhaupt die vergangenen zwei Jahre kein Kompliment. "Es war in jeder Beziehung alles schlecht", sagte Löw später, "nach dem 0:1 haben wir unsere Organisation aufgegeben, wir sind rausgestürzt und haben Räume geöffnet. Wir haben das Konzept verlassen und sind einfach irgendwo rumgelaufen."
Sein Innovationsangebot an die Nation hat Löw bereits gemacht
Eine ehrliche Analyse war das, der allerdings der Zusatz fehlte: Es war auch niemand da, der das Einfach-irgendwo-Rumlaufen verhinderte. Löw muss ja schnell gemerkt haben, dass sein Ästhetendoppel Kroos/Gündogan an diesem Abend nicht fähig und auch nur so mittel interessiert daran war, die gegnerischen Wellen zu brechen; Löw muss auch gesehen haben, dass die Laufwege seiner Leute wilden Linien glichen und dass der arme Linksaußen Timo Werner oft einen zweiten Linksverteidiger spielte, weil der noch ärmere Max als erster Linksverteidiger überfordert war.
Aber Löw blieb unsichtbar. Und seine Ideen zur Eindämmung der Katastrophe waren zwar zu erahnen (erste Hälfte: kompakt stehen; zweite Hälfte: offensiver anlaufen), aber ihre Umsetzung war allenfalls dazu geeignet, die "dunklen Wolken", die Oliver Bierhoff zuletzt über dem Nationalteam entdeckt hatte, in einen stabilen Wolkenbruch zu verwandeln. In dem steht der Bundestrainer nun, und es wird ihn nur mäßig trösten, dass er im Unwetter mal seine beste Zeit hatte. Bei der WM 2014 war Löw straff und klar und konzentriert, und er hat tipptop ausgesehen, als ihm im Spiel gegen die USA der Monsterregen von Recife die Bryan-Ferry-Frisur vollschiffte.
Was nun also? Sein Innovationsangebot an die Nation hat Löw bereits gemacht, als er Müller, Boateng und Hummels die Loyalität entzog, und immerhin darf er vorerst darauf vertrauen, dass sein Verband seinen Weg noch gut findet. Man habe sich "bewusst entschieden, den Umbruch mit vielen neuen und jungen Spielern mit Perspektive zu vollziehen", erklärte Präsident Keller am Mittwoch auf der Verbands-Homepage. Man habe "einen schwarzen Abend erlebt, der wehgetan hat", aber auch "den Willen gespürt, diesen Eindruck zu korrigieren". Die Mannschaft könne "an diesem herben Rückschlag wachsen, wenn dieses Spiel (...) gründlich analysiert und die nötigen Folgerungen daraus gezogen werden. Das Potenzial hat sie".
Ob auch er - Löw - das Potenzial hat, steht da übrigens nicht. Sein Name wird in diesem Statement nicht erwähnt.