- redrum
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- Lombaseggl
@crastro: Du schreibst ja mal öfter über die Beeinflussung einer Meinung durch die Medien. In dem Zeitartikel hast du ein wunderschönes Beispiel dafür und übersiehst es. Das Interview bringt pure Ideologie 'rüber. Mit Wissenschaft hat dies wenig zu tun.
Ich will auch erklären, warum.
Ich möchte mit der zweiten Seite des Interviews anfangen und der Frage nach dem „Kriegsindex.“ Hört sich erst einmal logisch an, je mehr perspektivlose Jugendliche auf den Straßen herumlungern, desto eher können Militär oder militärische Gruppen diese Jugendlichen requirieren. Als alleinige Begründung für das Entstehen von Kriegen taugt dieser Ansatz jedoch gar nichts. Heinsohn sagt: „In den dreißiger Jahren wurde der erste Jahrgang wehrfähig, in dem nachgeborene und deshalb als "Kanonenfutter" begehrte dritte oder vierte Brüder rar waren.“ Dann hätte der Zweite Weltkrieg in Europa und Japan niemals ausbrechen können, da ja dieser Kriegsindex signifikant gesunken ist. Was ist mit Vietnam? Afghanistan? Zwei Angriffskriege der USA. Ist in den 60ern und 2000ern denn die demographische Entwicklung der USA so viel anders gewesen als heute? Warum führt Indien nicht ständig Kriege, obwohl auch dort die Geburtenrate weit über den 2,1 Kindern pro Frau liegt? Warum bekriegt Brasilien nicht seine Anrainerstaaten, wo doch dort ebenfalls ein hoher Kriegsindex herscht. Sprich, die Bevölkerung ständig wächst?
Diese Theorie taugt nichts. Sie liefert keine hinreichende Begründung für das Entstehen von Kriegen oder Bürgerkriegen. Dieser „Kriegsindex“ kann, aber muss nicht zwingend einer von vielen Gründen sein, die zu einem Krieg führen. Die Reduktion, die Heinsohn vornimmt ist unwissenschaftlich und zutiefst rassistisch. Er sagt nämlich im Prinzip nichts anderes, dass wenn der Syrer in der Vergangenheit nicht so viel gefickt hätte, es heute keinen Bürgerkrieg dort geben würde.
Richtig ist, wie Heinsohn sagt, dass Kriege nicht aus Hunger heraus entstehen. Das behauptet aber auch kein ernsthafter Wissenschaftler und bei den Medien sind es nur ein paar dumme Redakteure. Diese „mediale Grundnahrung“ existiert nicht.
Aus Hunger entstehen Revolten. Soziologisch etwas ganz anderes. Ein Krieg oder eine Revolution versuchen dauerhaft Umstände zu ändern. Sie haben einen ideologischen Hintergrund. Eine Revolte nicht, sie versucht nur temporär einen bestimmten Missstand zu beseitigen.
Drohender Hunger ist jedoch sehr wohl ein Fluchtgrund. Das unterschlägt Heinsohn.
„Wenn es heute in irgendeinem afrikanischen Land losgeht, werden Sie fast immer einen vorherigen Anstieg der Pro-Kopf-Einkommen von ca. 300 Dollar auf ca. 1500 Dollar sehen.“ Und hier wird es ganz perfide. Heinsohn lässt nämlich den Zeitraum weg. 1500 Dollar im Monat sind in den meisten afrikanischen Ländern verdammt viel Geld. 1500 im Jahr reichen jedoch nur für das Existenzminimum. Und um diese 1500 p.a. geht es. Das sind etwa 4 Dollar am Tag. Das mag auf dem Lande noch gerade so reichen, im Einzugsgebiet von Großstädten, wie Addis Abeba oder Brazzaville reicht es nur für ein Leben in absoluter Armut. Also nix mit gut geschulten und medizinisch versorgten Jünglingen. Die gibt es auch, die arbeiten in den Armeen jedoch als Offiziere. Die flüchten nicht.
Heinsohn vertuscht hier ganz bewusst und definiert um. Armut ist ein Fluchtgrund. Aber dieses Wort nimmt er gar nicht in den Mund. Er suggeriert, dass es den Flüchtenden in der Heimat eigentlich doch ganz gut ginge, sie aber nicht den Hals voll bekommen.
Was er mit keinem Wort erwähnt ist zudem, dass vor allem die westlichen Länder durch die Ausbeutung von Ressourcen vielen Menschen ihre Lebensgrundlage entziehen. Er redet vom mangelnden Wachstum bei hohem Geburtenüberschuss. Er macht die Opfer dieser Politik zu Tätern. Woher kommt das mangelnde Wachstum. Die Ursachen lässt er unerwähnt. Haber hat ja einen schönen Artikel zu diesem Thema gepostet. Das ist frech.
„Ja! Als wir bei der Griechenlandkrise die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa beobachteten, warnten renommierte Professoren: Das ist explosiv, das führt zu Gewalt! Ich habe dem widersprochen. Denn die zornigen jungen Griechen sind statistisch gesehen einzige Söhne oder einzige Kinder, die allemal im Hotel Mama unterkommen.“ Das ist an Demagogie nicht zu überbieten. Hier wird die Wirklichkeit bis zur Unkenntlichkeit verdreht. Das „Hotel Mama“ gibt es in Griechenland nicht mehr. Es sind Notgemeinschaften. Und dieser Begriff in diesem Zusammenhang eine Sauerei.
Was Heinsohn zu Algerien sagt hat nun mit der Wirklichkeit endgültig nichts mehr zu tun. Bei den ersten einigermaßen freien Wahlen 1992 ging die FIS, die islamische Heilsfront, als Sieger hervor. Die jahrzehntelang regierende FLN kackte durch Korruption und Vetternwirtschaft total ab und putschte sich nach den Wahlergebnissen an die Macht zurück. Dieser Putsch gegen eine legal gewählte Regierung war der Grund für den Bürgerkrieg und nicht der Geburtenüberschuss. Auch das Ende des Bürgerkriegs hatte nichts mit Demographie zu tun. Beiden Seiten ging das Geld aus und so kam es zu Verhandlungen, die in eine Generalamnestie mündeten. Der Konflikt zwischen FLN und der GIA, der Nachfolgeorganisation der FIS ist nicht beendet. Er ruht nur.
Und dann macht Heinsohn das größte Fass auf, er setzt Flüchtlinge mit natürlicher Migration gleich. Natürlich kann man sich über ein Einwanderungsgesetz unterhalten, das hat aber nichts mit den aktuellen Flüchtlingsströmen und ihren Ursachen zu tun.
Ich könnte noch ein wenig weitermachen, aber das soll reichen, ich will ja nicht mehr als nötig langweilen. Nur noch: Heinsohn ist das, was man als wissenschaftliches Mietmaul bezeichnen könnte. Er verquickt ganz geschickt Wissenschaft und neoliberale Ideologie. In sich ist das Ganze logisch, doch wenn man genauer überlegt hat es mit der Wirklichkeit nichts zu tun, sondern zielt einzig und allein darauf ab, die herrschenden Verhältnisse ideologisch zu zementieren.