F
ake-News, wohin das Auge reicht, und die Wahrheit ist am Ende? Mitnichten. Wir haben es mit vielen kleinen Wahrheiten zu tun, und das ist ein Fortschritt.Manipulation und Verzerrung gehören zum Nachrichtengeschäft. Das war früher nicht anders als heute. Eines jedoch hat sich tatsächlich geändert: Die grosse liberal-demokratische Meistererzählung, die Establishment und Basis einte, gelangt an ihr Ende. Was einige bedauern, sehen andere als Chance.
Nicht nur die Fake-News, auch die Debatten rund um Fake-News sind en vogue. Kritiker der neuen Unübersichtlichkeit führen für gewöhnlich drei Ereignisse ins Feld, die zu jenem Zustand geführt haben sollen, in dem wir uns heute befinden. Es ist ein Zustand, den sie mit einer Formulierung umschreiben, die gut klingt und ein paar prominente Vorläufer hat: Die Wahrheit ist tot.
Zuerst wäre da also das erste Ereignis: der Aufstieg von religiösem und ethnischem Fundamentalismus und seinem Widerpart, dem Fundamentalismus der politischen Korrektheit. Beide sollen gemäss dieser Lesart das rationale Argumentieren ad absurdum führen, weil dessen Protagonisten hemmungslos Daten manipulieren, um ihre Botschaft unter die Leute zu bringen. Christliche Fundamentalisten lügen für Jesus, linke Moralisten kehren News unter den Teppich, die ihre liebsten Opfer in einem schlechten Licht zeigen – oder sie nennen die Überbringer unangenehmer Nachrichten gleich Rassisten oder Islamophobiker.
Dann wären da – zweites Ereignis – die neuen digitalen Medien, die Leute in die Lage versetzen, Gemeinschaften zu bilden, die sich durch gemeinsame ideologische Interessen auszeichnen. In diesen Medien tauschen die Gleichgesinnten bzw. Gleichgeschalteten ausserhalb des allen zugänglichen öffentlichen Raums unter ihresgleichen Nachrichten und Meinungen aus. Resultat: Verschwörungstheorien und anderweitige abstruse Anschauungen gedeihen und spriessen hier ohne den lästigen Widerspruch Andersdenkender.
Und schliesslich wäre da – drittes Ereignis – das Erbe der postmodernen Dekonstruktion bzw. des historischen Relativismus. Diese modischen Denkrichtungen gehen davon aus, dass es keine objektive, allgemeingültige Wahrheit gibt, sondern dass jede Wahrheit auf einem spezifischen Horizont beruht und in einem letztlich subjektiven Standpunkt gründet, der seinerseits von gesellschaftlichen Machtverhältnissen abhängig ist. Dabei gibt es keine Möglichkeit, die eigene Position zu transzendieren und objektiv auf die Welt zu blicken – unser Blick bleibt stets historisch bestimmt.
Die privilegierte Position
Dagegen lehnen sich die neuen Realisten, aber auch andere Leute auf, die sich auf den gesunden Menschenverstand berufen. Sie behaupten, dass es Tatsachen da draussen gibt und dass sie jedem zugänglich sind, der uninteressiert auf sie schaut. Diese Leute machen die guten alten Unterscheidungen stark: jene zwischen Meinung und Bericht, zwischen Meinungsfreiheit und harten Fakten. Sie geben es zwar nicht zu und inszenieren sich als unerschrockene Kämpfer für die Wahrheit, aber sie haben eine angenehme, privilegierte Haltung gewählt: Sie besetzen die Position der Aufrichtigkeit und können gegen beide Seiten austeilen, die alternative Rechte und die radikale Linke.
Die Probleme beginnen genau mit dieser letzten Unterscheidung. Denn es gibt tatsächlich so etwas wie «alternative Fakten». Natürlich nicht in dem Sinne, dass sich die Frage stellt, ob der Holocaust stattgefunden hat oder nicht. (Nur nebenbei sei bemerkt, dass alle Holocaust-Leugner oder -Revisionisten seit David Irving sich sehr strikt auf angeblich objektive Daten stützen – keiner von ihnen hat meines Wissens je den postmodernen Relativismus bemüht, um ihre abstrusen Theorien zu stützen!) Aber «Daten» sind ein weites und undurchdringliches Gebiet, und wir nähern uns ihm immer vor dem Hintergrund eines ganz bestimmten Verstehenshorizontes, wobei wir einzelne Daten beachten und andere nicht.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Niemand ausser Gott hat die totale Übersicht über das Datenland. Deshalb sind alle unsere Historien trotz Quellenstudium genau das: Geschichten, mithin eine Kombination von ausgewählten Daten, die zu einem kohärenten, mehr oder weniger plausiblen Gesamtzusammenhang vernäht werden (und also keine fotografischen Reproduktionen der Wirklichkeit).
Ein antisemitischer Historiker könnte beispielsweise locker einen Übersichtsartikel über die Rolle der Juden im gesellschaftlichen Leben in Deutschland in den 1920er Jahren schreiben, indem er hervorhebt, wie ganze Berufszweige (Anwälte, Journalisten, Künstler) von Juden dominiert wurden – das mag alles mehr oder weniger stimmen, doch stünde es im Dienste einer Lüge. Die wirksamsten Lügen sind solche, die einen Funken Wahrheit enthalten, Lügen, die also um Fakten herum gebaut sind.
Lüge im Kleide der Wahrheit
Nehmen wir ein anderes Beispiel, die Geschichtsschreibung von Nationalstaaten. Der Historiker kann die Geschichte des Landes erzählen, indem er auf die Wechselfälle politischer Macht, ökonomischer Entwicklung, ideologischer Kämpfe oder auf das Elend und die Proteste der Massen fokussiert. Dabei kann er so sorgfältig verfahren wie nur immer denkbar. Dennoch bleibt sein eigener persönlicher (und also gesellschaftspolitischer) Standpunkt dabei stets involviert – es gibt mithin keine objektiven, «wahren» Geisteswissenschaften.
Umgekehrt führt der Umstand, dass die Geschichte der Menschen stets aus einer bestimmten Perspektive geschrieben wird, die wiederum bestimmte ideologische Interessen ins Spiel bringt, nicht per se zu Beliebigkeit bzw. Relativismus. Nicht alles ist erlaubt – seriöses Quellenstudium ist Pflicht, ebenso eine nachvollziehbare Argumentation, Transparenz und andere Standards der jeweiligen Disziplin. Das Schwierige an der ganzen Sache besteht gerade darin, zu verstehen (und zu zeigen), dass nicht alle diese interessierten Standpunkte gleich wahr sind – einige sind «wahrhaftiger» als andere. Gerade darum braucht es zweitens stets eine Vielfalt der Standpunkte. Belastbare Erkenntnis ist nun mal anstrengend, weil sie eben erfordert, sich breit zu informieren.
Heute sehen wir, wie die Welle der Populisten, die das politische Establishment zunehmend seiner Legitimität beraubt, auch gleich die Wahrheit bzw. die Lüge wegspült, die dem Establishment als Gründungsgeschichte dient.
Die Geschichte einer Epoche oder eines Landes gehört aus allen Perspektiven erzählt – auch aus jener der Verlierer. Dieser Zugang trägt zu einem «wahreren» Bild der Geschehnisse bei, weil es die Dynamik der gesellschaftlichen Ganzheit insgesamt besser zu erfassen hilft. Nicht alle «subjektiven Interessen» sind identisch – nicht in erster Linie, weil die einen ethisch wertvoller sind als die anderen, sondern weil die «subjektiven Interessen» niemals ausserhalb der Gesellschaft stehen. Je mehr Standpunkte, umso besser. Sie sind selbst Momente des gesamtgesellschaftlichen Geschehens und werden durch aktive (oder passive) Teilnehmer sozialer Prozesse geformt. Der Titel von Habermas’ frühem Meisterwerk ist heute aktueller denn je: Erkenntnis und Interesse. Erkenntnis bildet Interesse, aber Interesse schafft auch Erkenntnis.
Doch es gibt ein noch grösseres Problem mit der Prämisse jener, die den «Tod der Wahrheit» verkünden: Sie sprechen so, als hätte es früher, trotz allen Manipulationen und Verzerrungen, eine goldene Zeit gegeben, in der die Wahrheit überall obsiegte. Die Zeit liegt nicht einmal so weit zurück, sie soll irgendwann in den 1980er Jahren zu Ende gegangen sein. Das ist natürlich reinste Nostalgie, denken wir nur an all die Verletzungen der Menschenrechte damals auf der Welt, an den Kalten Krieg, an die humanitären Katastrophen. Dennoch gibt es einen Unterschied zwischen damals und heute. Nur: Worin besteht er?
Ende der grossen Erzählung
Die Vergangenheit war nicht «aufrichtiger», vielmehr war die ideologische Hegemonie viel stärker als heute. Statt des Gewimmels an lokalen «Wahrheiten» herrschte damals eine Wahrheit bzw. eine grosse Lüge vor. Im Westen war dies die Wahrheit der liberal-demokratischen Meistererzählung. Heute sehen wir, wie die Welle der Populisten, die das politische Establishment zunehmend seiner Legitimität beraubt, auch gleich die Wahrheit bzw. die Lüge wegspült, die dem Establishment als Gründungsgeschichte dient. Der letztlich gültige Grund für diese Unterminierung ist nicht der Erfolg des postmodernen Relativismus, sondern das Versagen des internationalen Establishments, das nicht länger in der Lage ist, seine ideologische Hegemonie aufrechtzuerhalten.
Wir können nun sehen, was jene, die den «Tod der Wahrheit» verkünden, in Wirklichkeit beklagen: das Auseinanderfallen der einen grossen Geschichte, die von der Mehrheit der Leute mehr oder minder mitgetragen wurde und der Gesellschaft ideologische Stabilität verlieh. Das Geheimnis all derer, die den historischen Relativismus verfluchen, besteht darin, dass sie sich nach der sicheren Situation zurücksehnen, in der die eine grosse Wahrheit (auch wenn sie eine grosse Lüge war) die Wahrnehmungskoordinaten der allermeisten prägte. Kurzum, ausgerechnet die Verkünder des «Todes der Wahrheit» haben – wie in Nietzsches Aphorismus – diese Wahrheit getötet (oder mindestens zu töten geholfen): Ihr Lebensmotto ist das Goethesche «besser Unrecht als Unordnung», lieber eine grosse Lüge als die Wirklichkeit eines Gemischs aus kleinen Lügen und Wahrheiten. Dabei ist eines gewiss: Eine Rückkehr zur alten ideologischen Hegemonie wird es nicht geben. Aber um ehrlich zu sein: Das ist kein Anlass zur Sorge.
Ich frage ernsthaft und aufrichtig: Auch wenn das neue Leben anstrengend ist, ist es am Ende nicht besser (und ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer freieren Gesellschaft)?
https://www.nzz.ch/feuilleton/fake-news ... ld.1408345