Unter Westfalen hat geschrieben:Wer sich noch Dornröschen ansehen möchte:
Heute letzter Tag.
Wer das Ballett kennt, staunt wie ich, welch geniale Idee es von Marcia Haydée war, die böse Fee sehr viel stärker in die Handlung mit einzubeziehen.
Unbedingt
Für mich die schönste "märchenhafte" Inszenierung des Petipa-"Dornröschens" - enthält viele der ursprünglichen Tanzschritte, ist aber durch die intensivierte Rolle der bösen Fee viel dramatischer und auch runder. Es gab durchaus Leute, die 1987 nach der Premiere meinten, der Titel des Balletts hätte eigentlich "Carabosse" heißen müssen...
Hinzu kommt noch die wunderschöne Ausstattung von Jürgen Rose, der den Zeitablauf von Prolog zum 2. Akt durch unterschiedliche Moden optisch unterstreicht (auf diese Idee ist meines Wissens vor ihm kein Ausstatter je gekommen) und für die Kostüme des Hochzeitsfests im dritten Akt original indische Saris verarbeitet hat, deren farbige Pracht einen beim ersten Sehen schier "erschlägt"...
@Unter Westfalen
Es war meine dritte Stuttgarter Inszenierung dieses Balletts, die erste war noch von Nicolas Beriozoff (...), dann die von Cranko und jetzt schließlich das Meisterwerk von Marcia Haydée.
Leider kann ich Dir zu den "Dornröschen" von Beriozoff und Cranko nichts erwidern, da diese vor meiner Zeit stattgefunden haben. Ich vermute aber mal, dass das Cranko-"Dornröschen" von 1961 keine komplett neue Inszenierung war - wie beispielsweise der zeitlich spätere "Schwanensee" -, sondern im Wesentlichen eine leicht überarbeitete Übernahme der ja erst wenige Jahre alten Beriozoff-Inszenierung. Die Kostüme, die ich auf den raren Photos in meinem Ballettbuch gesehen habe, waren eher schlicht - auch im Gegensatz zum "Schwanensee". Aber vielleicht kannst Du als Augenzeuge mich diesbezüglich aufklären
Tatsache ist jedenfalls, dass die Crankosche Inszenierung wohl nur Anfang der 60er-Jahre aufgeführt wurde - und "Dornröschen" dann erst wieder nach Crankos Tod, nämlich 1977, in der sehr altbackenen Hightower-Inszenierung auf die Bühne kam. Und erst zehn Jahre später durch die Haydee zu einem viel beachteten Signaturstück wurde...
Und die Compagnie ist noch besser geworden. Das ist schon Weltstandard.
Tatsächlich ist die Compagnie unter der Leitung von Reid Anderson technisch wesentlich besser geworden als in den letzten zehn Jahren unter der Leitung von Marcia Haydee. 1985 hatte es einen riesigen Aderlass in der Truppe gegeben, als Uwe Scholz mehr als 20 Tänzer mit nach Zürich nahm, darunter fast alle aufstrebenden Halbsolisten und Solisten der jüngeren Garde. Die Haydee legte beim Casting der Neuen den Schwerpunkt mehr auf die Persönlichkeit als auf die Technik, was dazu führte, dass damals sehr individuelle Tänzer"typen" auf der Bühne standen (und es mir beispielsweise sehr leicht fiel, jeden einzelnen Corpstänzer selbst in totaler Maske anhand seiner persönlichen Bewegungsmuster zu identifizieren...). Allerdings merkte man die technischen Schwächen mancher Tänzer und die mangelnde Homogenität bei den technisch anspruchsvolleren Stücken und insbesondere bei den Klassikern deutlich. Das internationale Renommee des Stuttgarter Balletts stand damals durchaus auf der Kippe.
Ich habe einmal Richard Cragun die Carabosse tanzen sehen, aber Jason Reilly in dieser Aufnahme ist noch besser.
Kommen wir abschließend zu den persönlichen Vorlieben.
Ich bin ein ausgesprochener Jason Reilly-Fan (und wenn es eine gute Sache an der Finanzkrise 2009 gab, dann, dass Reilly deswegen nicht wieder zurück nach Kanada gegangen ist - aber das ist eine andere Geschichte...) und ich MAG auch seine Carabosse-Interpretation sehr. ABER: Auch wenn seine Darstellung es mit der Tiefe und Spontaneität von Richard Craguns Interpretation aufnehmen kann, fehlt ihm doch ein wenig von der weiblichen Seite der Role en travestie, IMHO. Das sage ich, die ich Cragun wohl an die zwanzig Mal in dieser Rolle erlebt habe. (Und jede Aufführung war anders und deswegen wieder spannend
)
Elisa Badenes ist seit dem Karriereende von Sue Jin Kang meine absolute Lieblingstänzerin, und sie gestaltet die Aurora mit viel Liebreiz, mit ihrem natürlichen Strahlen und technischer Extraklasse - lediglich die Balancen im Rosenadagio könnten noch etwas sicherer und länger sein (das allerdings ist Meckern auf sehr, sehr hohem Niveau
). Über Friedemann Vogel, den gebürtigen Stuttgarter, der in der Ballettwelt zu den ganz großen Stars gehört, kann man stundenlang reden oder einfach nur seine federleichten und butterweichen Sprünge und seine akkuraten und höchst eleganten Schritte und Pirouetten genießen. Und Miriam Kacerova ist eine mütterliche Fliederfee mit liebevoller Präsenz, ganz wie sie sein soll, und damit der vollkommene gute Widerpart zur Carabosse. Ein besonders erwähnenswertes Glanzstück stellt übrigens auch der Gestiefelte Kater von Louis Stiens dar, selten so einen Hallodri in dieser Partie gesehen...
Wenn die Unfähigkeit einen Decknamen braucht, nennt sie sich Pech.
- Charles Maurice de Talleyrand -