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redrum
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Lombaseggl
Weißt du airwin, wenn man etwas behauptet, so sollte man dies auch belegen können. Das gilt auch für einen Prof. In Afrika gibt es exakt 14 Kohlekraftwerke. Kannst du googeln. Dauert nur ein paar Sekunden. In Deutschland sind es vielleicht 50 oder 60. China investiert wesentlich mehr Geld in die Entwicklung und den Ausbau regenerativer Energien als die EU.

Was sagt uns das? Dein Prof argumentiert sehr unwissenschaftlich. Er hat von afrikanischer Infrastruktur keine Ahnung, weiß über Rahmendaten nur ungenügend Bescheid und hat Übrigen keinen Bock auf eine Diskussion. Kurz gesagt, sein Studium war für den Hintern.

Es ist sicher richtig, dass alle Anstrengungen in regenerative Energien für die Katz sind, wenn der Energiehunger in den Industrieländern weiter so steigt. Und das ist der entscheidende Punkt. Eine Zunahme des Energieverbrauchs in Deutschland um zwei Prozent entspricht grob geschätzt einer Zunahme von 500 Prozent in Guinea. Und daher ist das Argument, dass der deutsche Energiemarkt nicht mit entscheidend für das Weltklima sei, ein reines Scheinargument. Oder auch Demagogie. Genauso, wie die Schutzbehauptung, dass eh alles im Arsch sei, wenn alle Afrikaner Autos fahren. Vollkommener Unfug, der davon ablenken will, dass es vor allem die westlichen Industriestaaten sind, die über Individualmobilität nachdenken müssen. 90 Prozent der Afrikaner müssen sich keine Gedanken darüber machen, welches Auto sie sich kaufen. Für die ist schon ein Fahrrad ein Statussymbol. Das wird sich auch in den nächsten 20 Jahren nicht ändern, denn dafür fehlen die Voraussetzungen.

Wie Mobilitätskonzepte in 20 Jahren jedoch aussehen, ist heute noch nicht absehbar.

Aber was schreibe ich da, Diskussionen basierend auf Fakten sind Oldschool. Heute stehen die Welt auf Propaganda.

Strafraumgitarre
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Halbdaggl
@redrum: Ich mach das jetzt einfach mal...

Nämlich: Praktisch immer, wenn Du, zu egal welchem Thema, einen Beitrag hier rein verfasst, habe ich beim Lesen das Gefühl, ich sollte mich eigentlich bedanken.

Daher eben jetzt und stellvertretend für viele, wenn nicht alle, sonstigen Postings von Dir: DANKE :!: :D
Fick den Reichskanzler! Und den Kaiser!

Airwin
redrum hat geschrieben:Weißt du airwin, wenn man etwas behauptet, so sollte man dies auch belegen können. Das gilt auch für einen Prof. In Afrika gibt es exakt 14 Kohlekraftwerke. Kannst du googeln. Dauert nur ein paar Sekunden. In Deutschland sind es vielleicht 50 oder 60. China investiert wesentlich mehr Geld in die Entwicklung und den Ausbau regenerativer Energien als die EU.

Was sagt uns das? Dein Prof argumentiert sehr unwissenschaftlich. Er hat von afrikanischer Infrastruktur keine Ahnung, weiß über Rahmendaten nur ungenügend Bescheid und hat Übrigen keinen Bock auf eine Diskussion. Kurz gesagt, sein Studium war für den Hintern.

Es ist sicher richtig, dass alle Anstrengungen in regenerative Energien für die Katz sind, wenn der Energiehunger in den Industrieländern weiter so steigt. Und das ist der entscheidende Punkt. Eine Zunahme des Energieverbrauchs in Deutschland um zwei Prozent entspricht grob geschätzt einer Zunahme von 500 Prozent in Guinea. Und daher ist das Argument, dass der deutsche Energiemarkt nicht mit entscheidend für das Weltklima sei, ein reines Scheinargument. Oder auch Demagogie. Genauso, wie die Schutzbehauptung, dass eh alles im Arsch sei, wenn alle Afrikaner Autos fahren. Vollkommener Unfug, der davon ablenken will, dass es vor allem die westlichen Industriestaaten sind, die über Individualmobilität nachdenken müssen. 90 Prozent der Afrikaner müssen sich keine Gedanken darüber machen, welches Auto sie sich kaufen. Für die ist schon ein Fahrrad ein Statussymbol. Das wird sich auch in den nächsten 20 Jahren nicht ändern, denn dafür fehlen die Voraussetzungen.

Wie Mobilitätskonzepte in 20 Jahren jedoch aussehen, ist heute noch nicht absehbar.

Aber was schreibe ich da, Diskussionen basierend auf Fakten sind Oldschool. Heute stehen die Welt auf Propaganda.



@Redrum

Nein da muß ich den prof. verteidigen. Wie geschruben, ich war beruflich an der uni und das war meine zusammenfassung - also die eines laien - eines lockeren plauschs in der mittagspause. Ich nehme an er kennt sich da tatsächlich sehr gut aus und ich habe ggf. wichtige unterscheidungen wie die zwischen bestehenden und geplanten kohlekraftwerken nicht wiedergegeben. Ich hab mit den kollegen aber nur sehr unregelmäßig zu tun, ich kann ihn also aktuell nicht befragen.... .

1.) Inhaltlich kann ich dir aber nicht ganz folgen. Ein land wie Indien fabriziert eben erheblich mehr CO2 als zB deutschland, aufgrund der schieren masse der bevölkerung. Warum sollte sich das in afrika anders verhalten wenn die prognostizierte bevölkerungsexplosion (nebst der erhofften wirtschaftlichen entwicklung) eintritt?

2) China: China ist der mit großem abstand größte CO2 emittent der welt. Und die investieren eben (auch) massiv in kohleenergie. Hierzu nach sehr kurzem googeln aus dem handelsblatt:
[...]Die 120 größten Kohlekonzerne stehen dabei für knapp 70 Prozent der insgesamt weltweit geplanten neuen Kohlekraftwerke. 46 der Unternehmen fördern sogar selbst Kohle.
Im Vergleich zum vergangenen Jahr haben sich die Zahlen zwar verbessert. Damals waren noch 170 Gigawatt mehr geplant. Das liegt aber unter anderem daran, dass einige der Projekte inzwischen abgeschlossen sind.
Die globale Flotte an Kohlekraftwerken wächst immer noch. „Die Zahl der geplanten Projekte ist zwar gesunken. Die Pipeline ist aber noch immer viel zu groß“, sagt Urgewald-Gründerin und -Geschäftsführerin Heffa-Schücking: „So werden wir das Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, deutlich verfehlen.“
In der Liste tauchen auch die deutschen Konzerne Uniper und RWE auf. Uniper baut noch immer an seinem Steinkohlekraftwerk in Datteln, dessen Fertigstellung durch mehrere Pannen um Jahre verzögert wurde. RWE hält sich noch immer die Option für ein neues Braunkohlekraftwerk mit optimierter Anlagentechnik offen – auch wenn in Kreisen des Konzerns der Bau der Anlage schon ausgeschlossen wird.
Die 120 aufgeführten Unternehmen stammen aus 42 Ländern. Besonders China steht am Pranger. Ein Fünftel der Unternehmen hat hier seinen Sitz. Die chinesischen Firmen bauen fleißig Kohlekraftwerke im Heimatmarkt. So sollen alleine dort 260 Gigawatt dazu gebaut werden.
China hat zwar die Energiewende eingeläutet und hat sowohl bei Photovoltaik und Windenergie die führende Position übernommen. Und vor zwei Jahre versuchte die Zentralregierung den Zubau von Kohlekraftwerken zu begrenzen. So soll die installierte Leistung auf 1.100 Gigawatt begrenzt bleiben. Aktuell sind es aber schon 990 Gigawatt.
Das Ziel wird China also verfehlen, wenn die geplanten Projekte umgesetzt werden. Zumal viele der Projekte, die damals auf Eis gelegt worden waren, inzwischen wieder aufgenommen wurden. Die Klimaschützer haben das bei Kapazitäten von 57 Gigawatt festgestellt – zum Teil durch die Auswertung von Satellitenaufnahmen. „China bereitet uns große Sorgen“, sagt Schücking: „Das Land wird seine Klimaschutzziele nicht erreichen.“
Zudem exportieren die chinesischen Firmen Kohletechnologie auch im großen Stil in andere Länder. Aktuell verfolgen sie Projekte in 17 Ländern mit Kapazitäten von knapp 60 Gigawatt
.

https://www.handelsblatt.com/unternehme ... a20ttx-ap5


Das china derzeit in afrika sehr aktiv ist , ist ebenfalls bekannt und - nach kurzem googeln - weiß man dann auch dass der (kohle)kraftwerksbau prominent dazu gehört:
Campaigners in Kenya who fear their country is turning its back on its green goals are hoping to stop construction of a coal plant that would increase greenhouse gas emissions by 700%. [...] But the planned power station to be built by Chinese contractors with borrowed money would increase emissions by a factor of seven - and Kenya would have to import the coal.
China has made a commitment to reduce its reliance on coal, but at least a quarter of the hundreds of coal fired power stations being built or planned to be built around the world are being financed by China.

Critics say that by building these plants China is outsourcing its fossil fuel use by providing a market for its coal and encouraging it use in other countries.

https://www.bbc.com/news/uk-48503020


wohin wird die kohleverbrennung outgesourced? Nach afrika - und vermutlich anderen entwicklungs- und schwellenländern - die wahrscheinlich eines gemeinsam haben: enorme geburtenraten und einen wachsenden energieverbrauch, die leute wollen schließlich nicht auf dauer arm bleiben.

Bei ntv, werden die regionen in den china kohlekraftwerke plant nochmal explizit genannt:
China gibt viel Geld aus, um seine Wirtschaft unabhängig von der Kohleenergie zu machen. Die Volksrepublik erntet auch dafür viel Lob. Das ist aber nur eine Seite der Medaille - denn China veräußert dafür Dreckschleudern ins Ausland.

Die Kohlepolitik Chinas ist im Kreuzfeuer der Kritik. Während sich Peking im Inland bemüht, die Kohleenergie zu drosseln, verkauft es schmutzige Kohlekraftwerke nach Asien, Afrika und in den Nahen Osten. "China ist weltweit führend bei Investitionen, die seine Wirtschaft schrittweise unabhängig von Kohleenergie machen", sagt Tim Buckley vom US-Forschungsinstitut für Energiewirtschaft IEEFA. "Aber im Ausland investiert China weiter in zahlreiche Kohleprojekte, die in direktem Widerspruch zur nationalen Energiestrategie stehen."
Der Ausstoß von Kohlendioxid dieser von China finanzierten Kraftwerke könne die internationalen Anstrengungen zum Stopp der Erderwärmung torpedieren, heißt es in einer Studie des IEEFA, die in Kürze veröffentlicht wird.
Demnach stehen hinter einem Viertel der Kohlekraftwerke, die derzeit außerhalb der Volksrepublik geplant oder gebaut werden, staatliche chinesische Finanzinstitutionen oder Unternehmen. "Die Gefahr ist, diese Länder an etwas zu binden, was langfristig nicht gut für sie ist und das nicht mit den Zielen des Pariser Klimaabkommens vereinbar ist", sagt Christine Shearer, Hauptautorin des Berichts.
Viele der Zielländer wie etwa Ägypten, Nigeria, Kenia, der Senegal oder Simbabwe, produzierten bisher keine oder nur ganz wenig Energie aus Kohle. "Das bedeutet, dass sie eine Infrastruktur für den Import von Kohle oder sogar Kohleminen aufbauen müssen", sagt Shearer.

Weltweit ist die Kohle für 40 Prozent der klimaschädlichen CO2-Emissionen verantwortlich.
https://www.n-tv.de/wirtschaft/China-ba ... 68503.html



wenn ich das so lese waren die bedenken wohl nicht so aus der luft gegriffen?
Zuletzt geändert von Airwin am 31. Juli 2019 13:18, insgesamt 2-mal geändert.


Iron
Grasdaggl
redrum hat geschrieben:In Afrika gibt es exakt 14 Kohlekraftwerke. Kannst du googeln. Dauert nur ein paar Sekunden. In Deutschland sind es vielleicht 50 oder 60. China investiert wesentlich mehr Geld in die Entwicklung und den Ausbau regenerativer Energien als die EU.


12 davon in Südafrika. China investiert zwar mehr in regenerative Energien als die EU aber auch in Kohle. Hier ist vorallem auch Afrikanische Markt interessant für die Elektrifizierung. Wohin die Reise geht...

Und das ist der entscheidende Punkt. Eine Zunahme des Energieverbrauchs in Deutschland um zwei Prozent


Warum haben wir denn die Kohle als Hauptenergieträger? Warum müssen wir in Müllverbrennungsanlagen Kohle beisteuern und unseren Plastikmüll in aller Welt kostengünstig verticken? Warum haben wie soviel Plastikeinweg wie noch nie?




Tamasi
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Grasdaggl
Nice Weather hat geschrieben:Boris Johnson (...) kann es kaum erwarten, das Land in eine Art Cayman Islands vor Europas Küsten zu verwandeln, in dem sich multinationale Konzerne gesundstoßen und der Pöbel gucken kann, wo er bleibt. Sein worst case scenario ist wahrscheinlich, dass ihm selbst und ein paar hundert anderen genug Zeit bleibt, sich die Taschen vollzustopfen – den Dreck wegräumen und die tiefe Spaltung reparieren sollen dann andere.

Ein, wie ich finde, ausgesprochen guter Text:
England - eine persönliche Abrechnung

Unser schottischer Autor liebt Großbritannien. Umso mehr staunt er über dieses Land, das Europa zum Sündenbock für seinen Abstieg macht - und nicht merkt, wie es von den eigenen Eliten geplündert wird.

Von John Burnside

Gerade habe ich mit der Ambulanz der Royal Infirmary in Edinburgh telefoniert, wo ich regelmäßig wegen einer Schlafstörung in Behandlung bin. Die Termine wahrzunehmen ist kein Kinderspiel: Die monatliche Anreise dauert fünf Stunden mit Taxi, Bahn und Bus (wegen meiner Erkrankung kann ich nicht Auto fahren), und das Ganze kostet mich umgerechnet 120 Euro. Praktisch verliere ich auch noch einen Arbeitstag; kurz gesagt, ein teurer Spaß. Aber heute habe ich angerufen, weil ich meinen Termin aus wichtigen beruflichen Gründen kurzfristig verschieben muss, und die Frau am Telefon war nicht glücklich darüber.

Ich habe sie gefragt, ob sie eine andere Möglichkeit sieht, als im Morgengrauen 200 Kilometer anzureisen wegen eines Termins, der wahrscheinlich reine Routine ist, und sie hat mir erklärt, dass es keine Alternative gibt und Patienten aus ganz Schottland kommen. Aus Aberdeen, sagte sie. Von den abgelegenen Inseln. Ich nickte mitfühlend (eine müßige Geste am Telefon) und gab auf. Ich verstehe ja, dass ich ein Problem für sie bin, genau wie das mangelhafte ambulante Versorgungssystem ein Problem für mich ist, mit seinen Kosten und Umständen, und gleichzeitig denke ich, dass ich noch zu den Glücklichen gehöre. Ich bin zwar nicht reich, aber wenigstens kann ich mir die Anreise leisten. Viele andere können das nicht.

Ich erwähne diese banale Anekdote aus einem schlichten Grund, den jeder kennt, der auf staatliche Dienste oder inzwischen privatisierte Dienste angewiesen ist (Gesundheit und Verkehr, aber auch Energie und Wasser, Verwaltung, Bildung und Recht). Jahrzehntelang hat man den National Health Service (NHS) am langen Arm verhungern lassen und zwingt unterbezahlte Mitarbeiter zu überlangen Schichten an vorderster Front, während die lukrativeren Sparten des Verkehrswesens zu Schleuderpreisen verscherbelt und von service- zu profitorientierten Unternehmen umgebaut wurden. Wasser, Gas, Strom, Gefängnisse (die Liste ist lang) sind in die Hände von Bilanzexperten gewandert, die ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen, alles zu tun, um die Dividenden der Aktionäre zu maximieren (eine zweifelhafte Auflage in diesem Kontext nach dem großen Ausverkauf der Staatsunternehmen unter Margaret Thatcher in den Achtzigern). Das großartige Bildungssystem, das wir einst angestrebt haben, in dem Potenzial erkannt und Leistung belohnt wurde, ist zum schäbigsten aller Geschäftsmodelle verkommen, bei dem Studierende für alles bezahlen und dafür Leistung erwarten. In all diesen Bereichen, vom Hörsaal zum Bahnhof, vom OP zur Kanalisation, hat Geld über Qualität gesiegt.

Nur ein Hindernis blieb: die Regulierung. Trotz des beispiellosen Abbaus von Schutzklauseln und Umweltnormen in den Achtzigerjahren hatten gewisse Leute noch nicht genug - und wenn es ein Organ gab, das der weiteren Deregulierung im Weg stand, dann die Europäische Union. Was natürlich niemand laut sagen konnte. Stattdessen wurde ein Sündenbock gesucht, um das gemeine Volk vom Versagen unserer privatisierten Einrichtungen abzulenken: die gewaltige, gierige, aus dem Ruder gelaufene Brüsseler Bürokratie, die dem britischen Volk 350 Millionen Pfund pro Woche stahl, Millionen, die, wenn es nach dem "Leave"-Lager ginge, dem National Health Service zugutegekommen wären. Angeblich. Kurz sah es so aus, als müsse sich Boris Johnson, der führende "Leave"-Architekt, wegen der falschen Behauptung vor Gericht verantworten, die er im Vorfeld des Referendums in riesigen Buchstaben auf einen roten Bus hatte kleben lassen: "Wir schicken der EU 350 Millionen Pfund pro Woche. Geben wir sie lieber dem NHS." Das Statement, das in jeder Hinsicht Fake News war, hatte 2016 höchstwahrscheinlich Einfluss auf die Abstimmung. Doch das Gericht hat die Klage, die durch Crowdfunding finanziert worden war, nicht einmal zugelassen.

Insofern hat Johnson, der nach Theresa Mays ruhmlosem Zeitlupenabsturz als designierter Thronfolger gilt, trotz allem die Gelegenheit, sich in der Wertschätzung seiner Wähler zu suhlen, die, sei es aus Ignoranz oder intellektueller Apathie, in ihm den "starken Anführer" sehen, den Großbritannien in Krisenzeiten braucht. Laut Umfragen liegt er im Rennen um die Führung weit vorn und genießt sogar die Gunst des US-Präsidenten, der Johnson und seinen unangenehmen Kollegen Nigel Farage als "sehr gute Kerle" und "Freunde" bezeichnet. So oder so, die 350 Millionen Pfund pro Woche waren zu keinem Zeitpunkt wahr gewesen.

Na gut, könnten die Leaver argumentieren, aber der eigentliche Grund für die Abkehr von der EU sei der Wille des Volkes, das seine "Souveränität" zurückverlangt. Offen gesagt war mir nie ganz klar, was damit gemeint ist, auch wenn ich vermute, es hat irgendwie mit dem Wunsch zu tun, eine wesenhaft britische oder sogar englische Kultur zu bewahren. Immerhin ist die Kultur die Hüterin der Werte, nach denen wir handeln, oder wenigstens der Werte, nach denen wir trachten, und es gab eine Zeit in England, als diese Werte klar umrissen waren. Unerschütterlichkeit, trockener Humor, Fairplay, Toleranz für Exzentrik und ein zuweilen misslicher Inselcharakter, der jedoch zu bewundernswerter Eigenständigkeit und philosophischem Skeptizismus führte - das war, wofür England stand. Das und das Land selbst, wie es Shakespeare in Johann von Gaunts berühmter Rede in "Richard II." beschreibt:

Dies zweite Eden, halbe Paradies / Dies Bollwerk, das die Natur für sich erbaut / Der Ansteckung und Hand des Kriegs zu trotzen / Dies Volk des Segens, diese kleine Welt / Dies Kleinod, in die Silbersee gefasst .../ Der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England.

Ich persönlich verliebte mich auf Anhieb in dies halbe Paradies, als meine Familie in den Sechzigerjahren aus Schottland in die industriell geprägten Midlands zog, und auch in seine Ideale, wie sie P. C. Wrens Romanheld Beau Geste mit dem programmatischen Namen verkörperte. Der Vorläufer meiner vielen Helden war Captain Lawrence Oates von Scotts gescheiterter Südpolexpedition, dessen Tod, wie Scott ihn in seinem Tagebucheintrag aus dem März 1912 beschrieb, sich mir tief ins Herz geprägt hat: "Sollte dies Tagebuch gefunden werden, so bitte ich um die Bekanntgabe folgender Tatsachen ... Wochenlang hat Oates unaussprechliche Schmerzen klaglos ertragen und war doch bis zum letzten Augenblick fähig und willens, sich anderen Themen zu widmen ... er schlief vorletzte Nacht in der Hoffnung ein, nicht wieder zu erwachen; aber er erwachte am Morgen - gestern. Draußen tobte ein Schneesturm. Er sagte: 'Ich gehe nur mal hinaus, es könnte etwas länger dauern.' Dann ging er in den Sturm - und wir haben ihn nie wiedergesehen."

Das war Englishness für mich. Aber dieses England, dessen Werte mich so tief beeindruckten, ist immer für den Irrtum anfällig gewesen, die Kultur (und damit die Werte, für die sie steht) sei das natürliche Privileg einer (reichen, weißen, vorwiegend männlichen) Elite. T. S. Eliots Beiträge zum Begriff der Kultur etwa sind heute nur noch schwer zu lesen mit ihren Bezügen auf eine Elite als "Treuhänder" der höheren Werte und der Vorstellung, die "Funktion der oberen Kreise und Familien" sei die Bewahrung und Tradierung von Gruppenkultur und Umgangsformen.

Das war natürlich nur eine Seite der Medaille; in der Öffentlichkeit war die Forderung nach einer maskulinen Ethik, wie sie für den Erhalt eines Weltreichs nötig war, nicht auf die obere Klasse beschränkt; auch "einfache" Männer (und Frauen) konnten höhere Tugenden aufweisen, solange sie im Dienst des Reiches und seiner Herrscher standen, und die Hierarchien waren sorgfältig festgelegt, um sicherzustellen, dass, obwohl die Früchte nur wenige teilten, die Pflichten von allen getragen wurden.

Die Wahrheit, die hinter der gesellschaftlichen Hierarchie steckt, ist seit Langem für jeden, der näher hinsieht, durchschaubar, und inzwischen ist genauso klar, dass hinter dem Leave-Votum, aber auch hinter dem gefährlichen Rechtsruck der populären Politik in vielen Ländern der Welt, eine tief empfundene Entfremdung und Verbitterung unter weißen männlichen Wählern der Arbeiter- und unteren Mittelklasse stecken, die ihre Kultur und ihre Werte nachhaltig unterwandert, verunglimpft und verspottet sehen. Leider suchen sie die Schuld dafür nicht bei vermeintlich Höhergestellten, sondern schieben ihre Demütigung auf Einwanderung, Identitätspolitik und Feminismus.

Die Aufgabe, die sich heute stellt, ist, diesen Männern klarzumachen, dass die Illusion eines gemeinsamen Wertesystems - die Mär von der Schicksalsgemeinschaft der Briten - schon seit über hundert Jahren korrodiert und dass ihr heutiges Scheitern unvermeidbar ist, aber auch eine Chance, neue Wege der Englishness zu erfinden. Doch damit es so weit kommt, müssen wir uns neue gesellschaftliche Strukturen überlegen, Strukturen, in denen jene unrühmlichen "starken Anführer" keine Bühne haben und kein Versteck.

Das alte Privilegiensystem hält sich bis heute. Die herrschenden Klassen mögen manche ihrer früheren Ansprüche abgelegt haben, aber wie George Orwell 1946 schrieb: "England ist das klassenwahnsinnigste Land unter der Sonne. Es ist ein Land des Snobismus und der Privilegien, das vornehmlich von alten Narren regiert wird." Viel hat sich nicht geändert. Auch wenn heute weniger Abgeordnete von Privatschulen kommen (der Anteil steigt mit dem Rang), ist das Glück in diesem Land mit den Reichen, so wie es immer war. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Fünftel der höchsten Agrarsubventionen gehen an Unternehmer, die auf der Times-Liste der 100 reichsten Briten stehen, und die glücklichen Empfänger teilen sich eine Summe von 11,2 Millionen Pfund, wie verschiedene unabhängige Beobachter übereinstimmend feststellen. Schuld ist nicht, wie häufig argumentiert wird, die EU; britische Großgrundbesitzer plündern die Staatskasse seit Jahrzehnten, lange bevor die sogenannten EU-Subventionen zum Skandal wurden. In der Zwischenzeit streiten sich die schlecht bezahlten Mitarbeiter des Gesundheitsdiensts mit frustrierten Patienten am Telefon herum, während britische Firmen auf die sinkenden Zahlen von Arbeitsmigranten reagieren, die bislang die "gefährlichen, schmutzigen und stumpfsinnigen" Jobs übernommen hatten, indem sie auf Roboter setzen.

Seitens der Arbeitgeber ist kein erhöhtes Interesse zu spüren, in die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und Vergütung jener Britinnen und Briten zu investieren, die noch Arbeit haben, und wer meint, der Rückgewinn unserer "Souveränität" würde etwas daran ändern, ist entweder scheinheilig oder naiv. Seit den Achtzigerjahren, als der Kampf gegen die Regulierung brachial wurde, war das Einzige, was die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihr Umfeld noch schützte, die Regulierung durch die EU. Von einer No-Deal-Regierung dürfen wir solche Nettigkeiten nicht erwarten; und wenn alles erst einmal schlimmer wird, bevor es irgendwann besser wird, werden meine Landsleute stattdessen zwangsläufig einsehen, dass es die Parasiten und Schmarotzer, die unserer Wirtschaft das Herzblut aussaugen, zwar wirklich gibt, aber sie kommen nicht aus Europa, den ehemaligen Kolonien oder anderen fernen Orten. Sie waren schon immer hier, haben Subventionen gemolken, Steuern vermieden, Gesetze aus Eigeninteresse umgeschrieben und jeden echten Vorstoß von Regulierung und Umweltschutz mit aller Macht bekämpft. Vielleicht sind sie nicht mehr so alt und närrisch wie bei Orwell, doch ihre Missachtung der moralischen Werte und ihre Geringschätzung der Kultur sind unverändert. Und selbst wenn wir sie dank der neuesten Kommunikationstechnik fast täglich als Lügner, Schieber und Betrüger entlarven, segeln die meisten von ihnen weiter zu neuen ersprießlichen Ufern, unbehelligt von Gewissen und Gesetz.

An Lawrence Oates' Stelle wäre keiner dieser englischen Gentlemen zugunsten des Gemeinwohls in den Sturm hinausgegangen, auch wenn sie vielleicht aus PR-Gründen mit dem Gedanken gespielt hätten, einen Praktikanten zu schicken. Die Errungenschaft des Brexit ist, die Arroganz und die Verachtung gegenüber "britischen Werten" bloßzustellen, welche die hiesige Klassengesellschaft auszeichnet, und den Apparat der Täuschung und Irreleitung, mit dessen Hilfe das einfache Volk seit Jahrhunderten dazu gebracht wird, ihren unrühmlichen Anführern mehr oder weniger blind zu folgen. Jetzt wird es lange dauern, verkünden die Experten, bis die vielen Wunden verheilt sind, die der Brexit dem Land zufügt. Vielleicht ist unsere einzige Option, in Ermangelung eines Wunders, dafür Sorge zu tragen, dass das Freilegen unserer hässlichsten und tiefsten Wunden zu einer echten Heilung führt, statt in die nächste Falle zu tappen, die uns unsere selbsternannten Anführer stellen.

John Burnside , geboren 1955 in Schottland, gehört zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet und ist Professor für Kreatives Schreiben an University of St. Andrews in Schottland. Deutsch von Sophie Zeitz.

https://www.sueddeutsche.de/leben/brexi ... -1.4484027


Unter Westfalen
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Tamasi hat geschrieben:
Nice Weather hat geschrieben:Boris Johnson (...) kann es kaum erwarten, das Land in eine Art Cayman Islands vor Europas Küsten zu verwandeln, in dem sich multinationale Konzerne gesundstoßen und der Pöbel gucken kann, wo er bleibt. Sein worst case scenario ist wahrscheinlich, dass ihm selbst und ein paar hundert anderen genug Zeit bleibt, sich die Taschen vollzustopfen – den Dreck wegräumen und die tiefe Spaltung reparieren sollen dann andere.

Ein, wie ich finde, ausgesprochen guter Text:
England - eine persönliche Abrechnung

Unser schottischer Autor liebt Großbritannien. Umso mehr staunt er über dieses Land, das Europa zum Sündenbock für seinen Abstieg macht - und nicht merkt, wie es von den eigenen Eliten geplündert wird.

Von John Burnside

Gerade habe ich mit der Ambulanz der Royal Infirmary in Edinburgh telefoniert, wo ich regelmäßig wegen einer Schlafstörung in Behandlung bin. Die Termine wahrzunehmen ist kein Kinderspiel: Die monatliche Anreise dauert fünf Stunden mit Taxi, Bahn und Bus (wegen meiner Erkrankung kann ich nicht Auto fahren), und das Ganze kostet mich umgerechnet 120 Euro. Praktisch verliere ich auch noch einen Arbeitstag; kurz gesagt, ein teurer Spaß. Aber heute habe ich angerufen, weil ich meinen Termin aus wichtigen beruflichen Gründen kurzfristig verschieben muss, und die Frau am Telefon war nicht glücklich darüber.

Ich habe sie gefragt, ob sie eine andere Möglichkeit sieht, als im Morgengrauen 200 Kilometer anzureisen wegen eines Termins, der wahrscheinlich reine Routine ist, und sie hat mir erklärt, dass es keine Alternative gibt und Patienten aus ganz Schottland kommen. Aus Aberdeen, sagte sie. Von den abgelegenen Inseln. Ich nickte mitfühlend (eine müßige Geste am Telefon) und gab auf. Ich verstehe ja, dass ich ein Problem für sie bin, genau wie das mangelhafte ambulante Versorgungssystem ein Problem für mich ist, mit seinen Kosten und Umständen, und gleichzeitig denke ich, dass ich noch zu den Glücklichen gehöre. Ich bin zwar nicht reich, aber wenigstens kann ich mir die Anreise leisten. Viele andere können das nicht.

Ich erwähne diese banale Anekdote aus einem schlichten Grund, den jeder kennt, der auf staatliche Dienste oder inzwischen privatisierte Dienste angewiesen ist (Gesundheit und Verkehr, aber auch Energie und Wasser, Verwaltung, Bildung und Recht). Jahrzehntelang hat man den National Health Service (NHS) am langen Arm verhungern lassen und zwingt unterbezahlte Mitarbeiter zu überlangen Schichten an vorderster Front, während die lukrativeren Sparten des Verkehrswesens zu Schleuderpreisen verscherbelt und von service- zu profitorientierten Unternehmen umgebaut wurden. Wasser, Gas, Strom, Gefängnisse (die Liste ist lang) sind in die Hände von Bilanzexperten gewandert, die ihrer gesetzlichen Verpflichtung nachkommen, alles zu tun, um die Dividenden der Aktionäre zu maximieren (eine zweifelhafte Auflage in diesem Kontext nach dem großen Ausverkauf der Staatsunternehmen unter Margaret Thatcher in den Achtzigern). Das großartige Bildungssystem, das wir einst angestrebt haben, in dem Potenzial erkannt und Leistung belohnt wurde, ist zum schäbigsten aller Geschäftsmodelle verkommen, bei dem Studierende für alles bezahlen und dafür Leistung erwarten. In all diesen Bereichen, vom Hörsaal zum Bahnhof, vom OP zur Kanalisation, hat Geld über Qualität gesiegt.

Nur ein Hindernis blieb: die Regulierung. Trotz des beispiellosen Abbaus von Schutzklauseln und Umweltnormen in den Achtzigerjahren hatten gewisse Leute noch nicht genug - und wenn es ein Organ gab, das der weiteren Deregulierung im Weg stand, dann die Europäische Union. Was natürlich niemand laut sagen konnte. Stattdessen wurde ein Sündenbock gesucht, um das gemeine Volk vom Versagen unserer privatisierten Einrichtungen abzulenken: die gewaltige, gierige, aus dem Ruder gelaufene Brüsseler Bürokratie, die dem britischen Volk 350 Millionen Pfund pro Woche stahl, Millionen, die, wenn es nach dem "Leave"-Lager ginge, dem National Health Service zugutegekommen wären. Angeblich. Kurz sah es so aus, als müsse sich Boris Johnson, der führende "Leave"-Architekt, wegen der falschen Behauptung vor Gericht verantworten, die er im Vorfeld des Referendums in riesigen Buchstaben auf einen roten Bus hatte kleben lassen: "Wir schicken der EU 350 Millionen Pfund pro Woche. Geben wir sie lieber dem NHS." Das Statement, das in jeder Hinsicht Fake News war, hatte 2016 höchstwahrscheinlich Einfluss auf die Abstimmung. Doch das Gericht hat die Klage, die durch Crowdfunding finanziert worden war, nicht einmal zugelassen.

Insofern hat Johnson, der nach Theresa Mays ruhmlosem Zeitlupenabsturz als designierter Thronfolger gilt, trotz allem die Gelegenheit, sich in der Wertschätzung seiner Wähler zu suhlen, die, sei es aus Ignoranz oder intellektueller Apathie, in ihm den "starken Anführer" sehen, den Großbritannien in Krisenzeiten braucht. Laut Umfragen liegt er im Rennen um die Führung weit vorn und genießt sogar die Gunst des US-Präsidenten, der Johnson und seinen unangenehmen Kollegen Nigel Farage als "sehr gute Kerle" und "Freunde" bezeichnet. So oder so, die 350 Millionen Pfund pro Woche waren zu keinem Zeitpunkt wahr gewesen.

Na gut, könnten die Leaver argumentieren, aber der eigentliche Grund für die Abkehr von der EU sei der Wille des Volkes, das seine "Souveränität" zurückverlangt. Offen gesagt war mir nie ganz klar, was damit gemeint ist, auch wenn ich vermute, es hat irgendwie mit dem Wunsch zu tun, eine wesenhaft britische oder sogar englische Kultur zu bewahren. Immerhin ist die Kultur die Hüterin der Werte, nach denen wir handeln, oder wenigstens der Werte, nach denen wir trachten, und es gab eine Zeit in England, als diese Werte klar umrissen waren. Unerschütterlichkeit, trockener Humor, Fairplay, Toleranz für Exzentrik und ein zuweilen misslicher Inselcharakter, der jedoch zu bewundernswerter Eigenständigkeit und philosophischem Skeptizismus führte - das war, wofür England stand. Das und das Land selbst, wie es Shakespeare in Johann von Gaunts berühmter Rede in "Richard II." beschreibt:

Dies zweite Eden, halbe Paradies / Dies Bollwerk, das die Natur für sich erbaut / Der Ansteckung und Hand des Kriegs zu trotzen / Dies Volk des Segens, diese kleine Welt / Dies Kleinod, in die Silbersee gefasst .../ Der segensvolle Fleck, dies Reich, dies England.

Ich persönlich verliebte mich auf Anhieb in dies halbe Paradies, als meine Familie in den Sechzigerjahren aus Schottland in die industriell geprägten Midlands zog, und auch in seine Ideale, wie sie P. C. Wrens Romanheld Beau Geste mit dem programmatischen Namen verkörperte. Der Vorläufer meiner vielen Helden war Captain Lawrence Oates von Scotts gescheiterter Südpolexpedition, dessen Tod, wie Scott ihn in seinem Tagebucheintrag aus dem März 1912 beschrieb, sich mir tief ins Herz geprägt hat: "Sollte dies Tagebuch gefunden werden, so bitte ich um die Bekanntgabe folgender Tatsachen ... Wochenlang hat Oates unaussprechliche Schmerzen klaglos ertragen und war doch bis zum letzten Augenblick fähig und willens, sich anderen Themen zu widmen ... er schlief vorletzte Nacht in der Hoffnung ein, nicht wieder zu erwachen; aber er erwachte am Morgen - gestern. Draußen tobte ein Schneesturm. Er sagte: 'Ich gehe nur mal hinaus, es könnte etwas länger dauern.' Dann ging er in den Sturm - und wir haben ihn nie wiedergesehen."

Das war Englishness für mich. Aber dieses England, dessen Werte mich so tief beeindruckten, ist immer für den Irrtum anfällig gewesen, die Kultur (und damit die Werte, für die sie steht) sei das natürliche Privileg einer (reichen, weißen, vorwiegend männlichen) Elite. T. S. Eliots Beiträge zum Begriff der Kultur etwa sind heute nur noch schwer zu lesen mit ihren Bezügen auf eine Elite als "Treuhänder" der höheren Werte und der Vorstellung, die "Funktion der oberen Kreise und Familien" sei die Bewahrung und Tradierung von Gruppenkultur und Umgangsformen.

Das war natürlich nur eine Seite der Medaille; in der Öffentlichkeit war die Forderung nach einer maskulinen Ethik, wie sie für den Erhalt eines Weltreichs nötig war, nicht auf die obere Klasse beschränkt; auch "einfache" Männer (und Frauen) konnten höhere Tugenden aufweisen, solange sie im Dienst des Reiches und seiner Herrscher standen, und die Hierarchien waren sorgfältig festgelegt, um sicherzustellen, dass, obwohl die Früchte nur wenige teilten, die Pflichten von allen getragen wurden.

Die Wahrheit, die hinter der gesellschaftlichen Hierarchie steckt, ist seit Langem für jeden, der näher hinsieht, durchschaubar, und inzwischen ist genauso klar, dass hinter dem Leave-Votum, aber auch hinter dem gefährlichen Rechtsruck der populären Politik in vielen Ländern der Welt, eine tief empfundene Entfremdung und Verbitterung unter weißen männlichen Wählern der Arbeiter- und unteren Mittelklasse stecken, die ihre Kultur und ihre Werte nachhaltig unterwandert, verunglimpft und verspottet sehen. Leider suchen sie die Schuld dafür nicht bei vermeintlich Höhergestellten, sondern schieben ihre Demütigung auf Einwanderung, Identitätspolitik und Feminismus.

Die Aufgabe, die sich heute stellt, ist, diesen Männern klarzumachen, dass die Illusion eines gemeinsamen Wertesystems - die Mär von der Schicksalsgemeinschaft der Briten - schon seit über hundert Jahren korrodiert und dass ihr heutiges Scheitern unvermeidbar ist, aber auch eine Chance, neue Wege der Englishness zu erfinden. Doch damit es so weit kommt, müssen wir uns neue gesellschaftliche Strukturen überlegen, Strukturen, in denen jene unrühmlichen "starken Anführer" keine Bühne haben und kein Versteck.

Das alte Privilegiensystem hält sich bis heute. Die herrschenden Klassen mögen manche ihrer früheren Ansprüche abgelegt haben, aber wie George Orwell 1946 schrieb: "England ist das klassenwahnsinnigste Land unter der Sonne. Es ist ein Land des Snobismus und der Privilegien, das vornehmlich von alten Narren regiert wird." Viel hat sich nicht geändert. Auch wenn heute weniger Abgeordnete von Privatschulen kommen (der Anteil steigt mit dem Rang), ist das Glück in diesem Land mit den Reichen, so wie es immer war. Um ein Beispiel zu nennen: Ein Fünftel der höchsten Agrarsubventionen gehen an Unternehmer, die auf der Times-Liste der 100 reichsten Briten stehen, und die glücklichen Empfänger teilen sich eine Summe von 11,2 Millionen Pfund, wie verschiedene unabhängige Beobachter übereinstimmend feststellen. Schuld ist nicht, wie häufig argumentiert wird, die EU; britische Großgrundbesitzer plündern die Staatskasse seit Jahrzehnten, lange bevor die sogenannten EU-Subventionen zum Skandal wurden. In der Zwischenzeit streiten sich die schlecht bezahlten Mitarbeiter des Gesundheitsdiensts mit frustrierten Patienten am Telefon herum, während britische Firmen auf die sinkenden Zahlen von Arbeitsmigranten reagieren, die bislang die "gefährlichen, schmutzigen und stumpfsinnigen" Jobs übernommen hatten, indem sie auf Roboter setzen.

Seitens der Arbeitgeber ist kein erhöhtes Interesse zu spüren, in die Verbesserung von Arbeitsbedingungen, Weiterbildung und Vergütung jener Britinnen und Briten zu investieren, die noch Arbeit haben, und wer meint, der Rückgewinn unserer "Souveränität" würde etwas daran ändern, ist entweder scheinheilig oder naiv. Seit den Achtzigerjahren, als der Kampf gegen die Regulierung brachial wurde, war das Einzige, was die britischen Arbeiterinnen und Arbeiter und ihr Umfeld noch schützte, die Regulierung durch die EU. Von einer No-Deal-Regierung dürfen wir solche Nettigkeiten nicht erwarten; und wenn alles erst einmal schlimmer wird, bevor es irgendwann besser wird, werden meine Landsleute stattdessen zwangsläufig einsehen, dass es die Parasiten und Schmarotzer, die unserer Wirtschaft das Herzblut aussaugen, zwar wirklich gibt, aber sie kommen nicht aus Europa, den ehemaligen Kolonien oder anderen fernen Orten. Sie waren schon immer hier, haben Subventionen gemolken, Steuern vermieden, Gesetze aus Eigeninteresse umgeschrieben und jeden echten Vorstoß von Regulierung und Umweltschutz mit aller Macht bekämpft. Vielleicht sind sie nicht mehr so alt und närrisch wie bei Orwell, doch ihre Missachtung der moralischen Werte und ihre Geringschätzung der Kultur sind unverändert. Und selbst wenn wir sie dank der neuesten Kommunikationstechnik fast täglich als Lügner, Schieber und Betrüger entlarven, segeln die meisten von ihnen weiter zu neuen ersprießlichen Ufern, unbehelligt von Gewissen und Gesetz.

An Lawrence Oates' Stelle wäre keiner dieser englischen Gentlemen zugunsten des Gemeinwohls in den Sturm hinausgegangen, auch wenn sie vielleicht aus PR-Gründen mit dem Gedanken gespielt hätten, einen Praktikanten zu schicken. Die Errungenschaft des Brexit ist, die Arroganz und die Verachtung gegenüber "britischen Werten" bloßzustellen, welche die hiesige Klassengesellschaft auszeichnet, und den Apparat der Täuschung und Irreleitung, mit dessen Hilfe das einfache Volk seit Jahrhunderten dazu gebracht wird, ihren unrühmlichen Anführern mehr oder weniger blind zu folgen. Jetzt wird es lange dauern, verkünden die Experten, bis die vielen Wunden verheilt sind, die der Brexit dem Land zufügt. Vielleicht ist unsere einzige Option, in Ermangelung eines Wunders, dafür Sorge zu tragen, dass das Freilegen unserer hässlichsten und tiefsten Wunden zu einer echten Heilung führt, statt in die nächste Falle zu tappen, die uns unsere selbsternannten Anführer stellen.

John Burnside , geboren 1955 in Schottland, gehört zu den profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet und ist Professor für Kreatives Schreiben an University of St. Andrews in Schottland. Deutsch von Sophie Zeitz.

https://www.sueddeutsche.de/leben/brexi ... -1.4484027


Fast jeder Satz könnte von mir sein.
Aber diese Formulierungskunst geht weit über meine Fähigkeiten.

Die sich "Elite" nennen, sind verkommene Subjekte, auch bei uns.
Und die "linke Elite" hat seit der neuen Frankfurter Schule nichts Wesentliches mehr zustande gebracht.
Für eine freie und selbstbestimmte Ukraine.

Tifferette
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Grasdaggl
Unter Westfalen hat geschrieben:Fast jeder Satz könnte von mir sein.
Aber diese Formulierungskunst geht weit über meine Fähigkeiten.


Dann könnte ja doch nicht jeder Satz von Dir sein.

:mrgreen:

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass GB und die USA ihren Bürgern seit Jahrhunderten erfolgreich vorgaukeln, Demokratien zu sein, wobei sie eigentlich rechtstaatliche Oligarchien sind, die von einer kleinen Gruppe Aristokraten (hier im faktischen Sinne gemeint, nicht im formellen) geführt werden. Sehr treffend.

Und wenn diese kleine Elite dann korrumpiert wird, dann ist es um das System geschehen. Genau das dürfen wir derzeit bewundern. Es ist dermaßen frustrierend...
"They may be drinkers, Robin, but they are also human beings."

(Batman)

Frank N Furter
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Himbeertoni
@Afrika

Das prognostizierte Bevölkerungswachstum für Afrika (heute 1 Milliarde) geht aktuell von 2,2 Milliarden Menschen im Jahr 2050 aus. Die Sub-Saharah-Zone ist bevölkerungsmäßig die am stärksten wachsende Region der Erde.

Das ist auch für uns ein ethisch und wirtschaftlich sehr bedeutender Umstand. Man sollte sich bitte mal klar machen, dass wir im wesentlichen zwei Entwicklungen befördern können:

1. Um die Armuts- und Gewaltmigration aus Afrika zu stoppen, müssen wir dort in die wirtschaftliche Entwicklung investieren. Schon jetzt hat dort nahezu jeder ein Handy. Wir können also die Migration nur stoppen, wenn wir es schaffen den mit höherer Wirtschaftskraft einhergehenden Ressourcenverbrauch verträglich zu steuern.

2. Sind wir dazu (zu 1) nicht bereit, wird es zunehmend Flüchtlingsströme geben mit insgesamt katastrophalen Folgen. Die Flüchtlinge werden nach und nach auch alle noch gerade so stabilen Länder in Afrika destabilisieren. Da wird sich absehbar also eine Scheeballdynamik entwickeln. Wenn dann damit einhergehend der Lebenstandard der Afrikaner weiter sinkt, geht das Bevölkerungswachstum noch stärker nach oben. Ein Teufelskreis.

Es sind jetzt schon ziemlich kluge Leute gefragt, die sehr gute Lösungen finden müssten. Das wird sehr viel Geld kosten, welches hauptsächlich von uns Europäern kommen muss. Leider ist Europa - also die EU - bisher ein Totalausfall in dieser Frage. Im Gergenteil, Europa gehört für Afrika zu den destruktivsten politischen Systemen der Erde. Wir schicken eigentlich nach Afrika nur noch unseren Elektroschrott und unseren Müll und verhindern mit mittelalterlichen Zöllen jede Art von (landwirtschaftlicher-industrieller) Revolution in Afrika.
https://bit.ly/2x1Kpuf

Unter Westfalen
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Grasdaggl
Tifferette hat geschrieben:
Unter Westfalen hat geschrieben:Fast jeder Satz könnte von mir sein.
Aber diese Formulierungskunst geht weit über meine Fähigkeiten.


Dann könnte ja doch nicht jeder Satz von Dir sein.

:mrgreen:

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass GB und die USA ihren Bürgern seit Jahrhunderten erfolgreich vorgaukeln, Demokratien zu sein, wobei sie eigentlich rechtstaatliche Oligarchien sind, die von einer kleinen Gruppe Aristokraten (hier im faktischen Sinne gemeint, nicht im formellen) geführt werden. Sehr treffend.

Und wenn diese kleine Elite dann korrumpiert wird, dann ist es um das System geschehen. Genau das dürfen wir derzeit bewundern. Es ist dermaßen frustrierend...


Auch da könnte jeder Satz inhaltlich von mir stammen. :!:
Ich würde es allerdings noch etwas ausschmücken. ;)
Menno.
Aus diesen 5 Sätzen hat Noam Chomsky wenigstens 2 Bücher geschrieben.
:mrgreen:
Für eine freie und selbstbestimmte Ukraine.


Unter Westfalen
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Grasdaggl
Tifferette hat geschrieben:Tja, deshalb kann ich mit Chomsky wenig anfangen. Labersack (with all due respect...).


Weiß ich wohl, deswegen habe ich ihn auch erwähnt. :banane:

Ich finde seinen Stil ganz erfrischend. Und vor allem quellenorientiert.
Für eine freie und selbstbestimmte Ukraine.

Frank N Furter
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Himbeertoni
Chomsky hat tatsächlich sarazineske Charakteranteile. Als Linguist (vgl.= als Finanzsenator), sehr erfolgreich. Als Populist zuweilen mindestens irritierend.

Allerdings: bevor jetzt wieder der Schuster zitiert wird, der besser bei seinen Leisten geblieben wäre: Nö, findisch net. Nachgewiesener maßen kluge Leute sollten sich bitte gerne auch in Themenfelder einbringen, wo sie weniger Ahnung haben, vor allem in politische. Auch wenn sie sich irren, sind sie meist (und oft auch nur deshalb) eine Beraischerung (Beispiele reichen mindestens von Goethe bis Einstein)

Generell hat der Irrtum einen viel zu schlechten Leumund. Viele Irrtümer waren wesentlich wichtiger als ganz wenige Bestätigungen des Gedachten. Im Grunde müssten wir Menschen uns eigentlich über jeden unserer Fehler freuen. Aber das packen wir halt irgendwie psychohygienisch nicht....
Zuletzt geändert von Frank N Furter am 31. Juli 2019 14:51, insgesamt 1-mal geändert.
https://bit.ly/2x1Kpuf

Tifferette
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Grasdaggl
Oh, nicht dass ich falsch verstanden werde - natürlich ist der ziemlich schlau. Aber zu weitschweifig. Typisches Linguistenproblem, meiner Meinung nach.
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(Batman)

Airwin
Frank N Furter hat geschrieben:@Afrika

Das prognostizierte Bevölkerungswachstum für Afrika (heute 1 Milliarde) geht aktuell von 2,2 Milliarden Menschen im Jahr 2050 aus. Die Sub-Saharah-Zone ist bevölkerungsmäßig die am stärksten wachsende Region der Erde.

Das ist auch für uns ein ethisch und wirtschaftlich sehr bedeutender Umstand. Man sollte sich bitte mal klar machen, dass wir im wesentlichen zwei Entwicklungen befördern können:

1. Um die Armuts- und Gewaltmigration aus Afrika zu stoppen, müssen wir dort in die wirtschaftliche Entwicklung investieren. Schon jetzt hat dort nahezu jeder ein Handy. Wir können also die Migration nur stoppen, wenn wir es schaffen den mit höherer Wirtschaftskraft einhergehenden Ressourcenverbrauch verträglich zu steuern.

2. Sind wir dazu (zu 1) nicht bereit, wird es zunehmend Flüchtlingsströme geben mit insgesamt katastrophalen Folgen. Die Flüchtlinge werden nach und nach auch alle noch gerade so stabilen Länder in Afrika destabilisieren. Da wird sich absehbar also eine Scheeballdynamik entwickeln. Wenn dann damit einhergehend der Lebenstandard der Afrikaner weiter sinkt, geht das Bevölkerungswachstum noch stärker nach oben. Ein Teufelskreis.

Es sind jetzt schon ziemlich kluge Leute gefragt, die sehr gute Lösungen finden müssten. Das wird sehr viel Geld kosten, welches hauptsächlich von uns Europäern kommen muss. Leider ist Europa - also die EU - bisher ein Totalausfall in dieser Frage. Im Gergenteil, Europa gehört für Afrika zu den destruktivsten politischen Systemen der Erde. Wir schicken eigentlich nach Afrika nur noch unseren Elektroschrott und unseren Müll und verhindern mit mittelalterlichen Zöllen jede Art von (landwirtschaftlicher-industrieller) Revolution in Afrika.



alles pillepalle verglichen mit der feinstaubproblematigg am neckartor und den noch immer nicht verbotenen inlandsflügen und leberkäsweckle :P


Airwin
Die sich "Elite" nennen, sind verkommene Subjekte, auch bei uns.



wenn ich mich recht entsinne war es hannah arendt die darauf hinwies, dass eliten nur dann gebasht werden dürfen wenn sie schon am ende sind (und zwar von den führern des vermeintlichen volkswillens, also in dem fall vermutlich UWe aus münster :D ).


Tifferette
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Grasdaggl
Dass Eliten per se verkommen sind, ist freilich nicht belegbares Kleinmäxchendenken und meiner Meinung nach ebenfalls sehr unschöner Klassenkampf.
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(Batman)