Historiker Joachim Radkau: «Es gehört zur Political Correctness, sich zum Glauben an den Klimawandel zu bekennen. In Wahrheit nimmt man ihn nicht ernst»Niemand hat sich intensiver mit der Geschichte der ökologischen Bewegung beschäftigt als der deutsche Historiker Joachim Radkau. Im Gespräch erklärt er, warum er auf Greta Thunberg hofft, wie er zum Kernkraftgegner wurde und warum es in der Klimadebatte mehr Toleranz braucht.
Hansjörg Müller, Bielefeld
24.11.2019, 16:39 Uhr
Herr Radkau, in einer E-Mail haben Sie mir geschrieben, das Aufkommen der Klimaschutzbewegung «Fridays for Future» sei für Sie «eine schöne Überraschung». Was ist daran schön und was überraschend?
Seit den frühen 1970er Jahren fühle ich mich der Umweltbewegung verbunden. Damals hatte ich das Gefühl, dass es endlich eine Bewegung gab, die mein Unbehagen zum Ausdruck brachte. Vor zehn Jahren, als ich mein Buch über die «Ära der Ökologie» schrieb, fragte ich mich, ob diese Ära bereits vorüber sei. Diese Frage ist nun eindeutig beantwortet. Dass weltweit Massen von Jugendlichen für das Klima auf die Strasse gehen, hätte ich nie für möglich gehalten. Die hätten sich ja auch sagen können, dass es in Norddeutschland oder Skandinavien wärmer wird, ist doch eigentlich ganz schön. Verblüffend fand ich auch, wie abrupt das kam. Im August letzten Jahres setzte sich Greta Thunberg erstmals vor das schwedische Parlament. Bereits wenige Monate später war die Bewegung explosionsartig angewachsen.
Wie ist das zu erklären?
Darüber grüble ich noch immer nach. Heute denke ich, man sollte als Historiker nicht immer nur nach den Ursprüngen, sondern ab und zu auch nach den Zukunftsvorstellungen der Menschen fragen. «Fridays for Future» ist das beste Beispiel: Die haben Angst um ihre Zukunft. Heute Mittag redete ich mit meiner Frau darüber. Sie meinte, Jugendliche würden sehr stark von den Bildern geprägt, die sie in den elektronischen Medien sähen. Wenn sie einen einsamen Eisbären auf einer Scholle dahintreiben sähen, gehe ihnen das zu Herzen.
Finden Sie es nicht bedrückend, dass sich junge Menschen vor dem Ende der Welt fürchten?
Ich glaube nicht, dass Angst und Pessimismus die vorherrschenden Gefühle sind. In den frühen 1980er Jahren gab es wirklich so eine No-Future-Stimmung, aber «Fridays for Future» verfolgt doch einen ganz anderen Ansatz. Ich spüre da einiges Vertrauen darauf, dass wir das noch hinbekommen.
Ist es nicht möglich, dass sich diese jungen Leute in wenigen Jahren schon für etwas ganz anderes interessieren?
Die Gefahr, dass das lediglich ein vorübergehendes Phänomen ist, sehe ich durchaus. Wichtig wäre, dass sich die jungen Leute für ganz bestimmte Ziele einsetzten. Greta Thunberg sagt, alles müsse sich ändern. Genau das könnte dazu führen, dass sich am Ende gar nichts ändert. Man kann nur erfolgreich sein, wenn man sich auf etwas konzentriert.
In Deutschland befinden sich die Grünen im Höhenflug. Hat das vor allem mit dem Klima zu tun, oder spielen auch andere Aspekte eine Rolle?
Ich denke, das hat schon in erster Linie mit dem Klima zu tun. Das Bewusstsein dafür hat dramatisch zugenommen. Aber die Geschichte der Grünen ist ein ständiges Auf und Ab. Immer wieder gab es Abstürze, etwa nach der Wiedervereinigung, als die Grünen 1990 den Wiedereinzug in den Bundestag verpassten, oder auch nach dem Ende der rot-grünen Regierungskoalition, die durch die Hartz-Reformen viele Linke vergrault hatte. Ob der jetzige Boom von Dauer ist, muss sich erst noch zeigen.
Die Grünen galten immer als links. Tatsächlich sind sie eher bürgerlich geprägt: Man findet unter ihnen mehr Akademiker als in den meisten anderen Parteien. Umgekehrt dürften nur wenige Arbeiter grün wählen.
Die alte Unterscheidung zwischen rechts und links hilft uns bei der Betrachtung der Grünen kaum noch weiter. Wenn man die Wähler- und Mitgliederstatistiken sieht, handelt es sich eher um eine Mittelstands- als um eine Arbeiterpartei. Die Gewerkschaften halten es in Umweltfragen auch eher mit der Industrie. Die grosse Machtstellung der Automobilindustrie ist sicher das grösste Umweltproblem in Deutschland. Und wer sich mit der Autolobby anlegt, bekommt es mit den Gewerkschaften zu tun. Selbst die Grünen haben einen frontalen Zusammenstoss mit dieser Branche bisher vermieden.
Für einen überzeugten Ökologen betrachten Sie die grüne Partei erstaunlich distanziert.
Ich stand ihr nie sonderlich nahe. Bei den Achtundsechzigern, welche die Grünen prägten, fand ich vieles ganz lustig, aber irgendwie war das auch eine Imitation alter Revoluzzer-Szenen, die mir in der Bundesrepublik jener Jahre anachronistisch erschienen. Um 1980, als die Grünen entstanden, waren sie ein kunterbuntes Konglomerat. Da gab es Altmarxisten, militante Maoisten, Hippies und auch Pädophile, die fanden, Sex sei immer etwas Gutes, folglich müsse auch Sex mit Kindern etwas Gutes sein. Für ökologische Fragen haben sich die frühen Grünen erstaunlich wenig interessiert.
Sie haben auch einmal kritisiert, den Grünen fehle es an Heimatliebe.
In den Anfangsjahren meinten viele von ihnen, die Deutschen seien irgendwie ein Scheissvolk, in dem es vor alten Nazi-Schweinen wimmle, und deswegen könnten gar nicht genug Ausländer hereinkommen. 1989 forderten die Grünen offene Grenzen für alle. Ursprünglich war ich auch auf dieser Linie, aber als Hochschullehrer beschäftigte ich mich auch mit Lehrerbildung und hielt mehr als vierzig Jahre lang Unterrichtsübungen an Schulen ab. In einer Primarschulklasse, die zur Hälfte aus Schülern türkischer Herkunft bestand, sah ich, dass die Lehrer wirklich wütend über das Multikulti-Gelaber der Intellektuellen waren. Hinzu kam, dass ich mich lange Zeit intensiv mit der Geschichte der Kernkraft auseinandergesetzt hatte. Die Grünen waren auf diesem Gebiet wenig kompetent. Tschernobyl hat sie völlig überrascht.
Sie waren lange Zeit ein Befürworter der Kernenergie.
Das war typisch für meine Generation. Vor allem linke Intellektuelle sahen die Kernkraft regelrecht euphorisch. Die grosse Mehrheit der deutschen Bevölkerung blieb dagegen immer skeptisch.
Wie wurden Sie zum Kernkraftgegner?
Entscheidend war für mich das Buch «Friedlich in die Katastrophe» von Holger Strohm, das Anfang der 1970er Jahre erschien und schon bald zu einer Art Bibel der Anti-AKW-Bewegung wurde. Strohms Verdienst bestand darin, die ganzen kritischen Informationen über die Kernkraft zugänglich zu machen, die in den USA bereits vorhanden waren. Dort gab es schon seit den 1960er Jahren eine Anti-AKW-Bewegung, die von sehr kompetenten Leuten geleitet wurde.
Sie lasen Strohm und hatten dabei ein Erweckungserlebnis?
Ich war noch einige Zeit hin- und hergerissen. Ich dachte, in irgendeiner Form ist die Kernkraft doch die Energie der Zukunft. In den 1950er Jahren war ja eine ganz breite Palette von alternativen Reaktortypen im Gespräch gewesen, von denen einige womöglich ganz erhebliche Sicherheitsvorteile gehabt hätten. Zudem sah ich die Kohle als einzige wirkliche Alternative, doch gerade sie geriet ab 1980 wegen des aufkommenden Klimawandels unter Beschuss. Solarenergie war damals noch unglaublich teuer; ein Ausbau der Wasserkraft führte zu ärgsten Konflikten mit Natur- und Landschaftsschützern.
Bleibt der Ausstieg aus der Kernenergie ein deutscher Sonderweg?
Da bin ich mir nicht sicher. Die Kernenergie ist zwar noch nicht tot, aber womöglich haben wir es mit einem schleichenden Ausstieg zu tun, über den kaum geredet wird. In Deutschland wurde seit 1982 kein neues Kraftwerk in Auftrag gegeben. Ein solches Zurückfahren der Pläne scheint mir mit einigen Ausnahmen weltweit verbreitet zu sein.
«Wird ein Windpark gebaut, protestieren Landschaftsschützer. Wasserkraftwerke kann man ohnehin kaum noch bauen, und für die Produktion von Biosprit braucht es immer grössere Maisfelder.»
Sie sprachen die unterschiedlichen Wege an, welche die Kerntechnologie hätte nehmen können. Heisst das, Sie könnten irgendwann wieder zum Kernkraftbefürworter werden, sollten doch noch sicherere Reaktoren entwickelt werden?
Die bisherigen Kernkraftwerke sind eindeutig nicht verantwortbar. Allerdings habe ich grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, dass weiter geforscht wird. Ich wäre froh um Alternativen, denn was mich vor allem bedrückt, ist eine mögliche Spaltung der Umweltbewegung, die durch eine radikale Umstellung auf erneuerbare Energien herbeigeführt werden könnte: Wird ein Windpark gebaut, protestieren Anwohner und Landschaftsschützer. Wasserkraftwerke kann man ohnehin kaum noch bauen, und für die Produktion von Biosprit braucht es immer grössere Maisfelder, mit allen negativen Folgen für die Artenvielfalt. Die grössten Hoffnungen setze ich in die Photovoltaik: Auch wenn sie noch der Weiterentwicklung bedarf, halte ich sie grundsätzlich für die beste Lösung, zumal auch sonnenreiche Länder der Dritten Welt durch sie eine besondere Chance erlangen.
Werden sich die Zielkonflikte, die Sie eben angesprochen haben, durch den Klimawandel weiter verschärfen?
Damit ist zu rechnen. Mitte der 1990er Jahre war ich an einer Tagung über Naturschutz und Windkraft in Sachsen-Anhalt. Schon damals war ich entsetzt, was für ein Hass auf die Windkraft unter Natur- und Landschaftsschützern herrschte. Ein guter Freund von mir lebt in Schleswig-Holstein. Bei ihm in der Nähe soll ein Windpark errichtet werden, und er tobt dagegen.
Haben Sie dafür Verständnis?
Vor der Nase möchte ich so ein Windrad auch nicht haben. Aber die meisten Windparks stören mich nicht. Früher gab es Windmühlen, die deutlich mehr Lärm machten als die heutigen Rotoren.
Erwartet man sich in Deutschland grundsätzlich zu viel von erneuerbaren Energien?
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob man sich wirklich viel davon erwartet. Die Energiewende wurde doch nur recht zögerlich vorangetrieben. Manchmal habe ich das Gefühl, es gehört inzwischen zur Political Correctness, sich zum Glauben an den Klimawandel zu bekennen. Doch in Wahrheit nimmt man ihn nicht sonderlich ernst.
Was den menschengemachten Klimawandel betrifft, zählte selbst ein überzeugter Ökologe wie Sie einmal zu den Zweiflern.
Um 1980, als selbst Experten noch eine neue Eiszeit kommen sahen, begegnete mir das drohende «global warming» zunächst als Argument der Atomlobby. Bis vor zwanzig Jahren war ich tatsächlich noch ziemlich unschlüssig. Es gibt ja durchaus ernstzunehmende Gegenargumente. Im Sommer 2002 war ich mit Christian Pfister, dem führenden Schweizer Klimahistoriker, in den Hochalpen. Pfister führte einigen Kollegen und mir den Rückgang der Gletscher vor Augen. Einer, der bis dahin Zweifel am Klimawandel gehabt hatte, erklärte, er sei nun vom Saulus zum Paulus geworden. «Vorsicht», sagte Pfister daraufhin, «in den 1980er Jahren wuchsen die Gletscher noch.» Er wies auch darauf hin, dass es eine Rivalität zwischen Klimahistorikern und Klimamodell-Forschern gebe. Eine alarmistische Haltung, die sich eher durch Modelle begründen lässt, hielt er damals noch für ein Argument der Klimamodell-Forscher, um den Klimahistorikern Fördergelder abzujagen.
Halten Sie es für möglich, dass der menschliche Einfluss von manchen übertrieben wird?
Ich hoffe noch immer im Stillen, dass auch andere Faktoren mitspielen, denn wenn der anthropogene Klimawandel uneingeschränkt zutrifft, sieht die Zukunft unseres Planeten ziemlich trübe aus. Aber wenn man die Gefahr zu sehr herunterspielt, riskiert man, dass überhaupt nichts passiert. Die grosse Wahrscheinlichkeit spricht für den anthropogenen Klimawandel. Um zu handeln, brauchen wir sowieso keine 100-prozentige Sicherheit, sonst könnten wir ja gar nichts tun.
«Ich bedaure, dass gerade bei Intellektuellen, die sich für progressiv halten, sofort eine Jalousie herunterrasselt, wenn jemand auch nur die leisesten Zweifel am anthropogenen Klimawandel äussert.»
Wie sollte man mit den sogenannten Klimaleugnern umgehen? Einige Aktivisten fordern bereits Gesetze, um ihnen den Mund verbieten zu können.
Ich bedaure, dass gerade bei Intellektuellen, die sich für progressiv halten, sofort eine Jalousie herunterrasselt, wenn jemand auch nur die leisesten Zweifel äussert. Vernünftiger wäre es, den Dialog zu suchen. Stefan Rahmstorf, einer der führenden Köpfe des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, hat mit Alvo von Alvensleben, einem Skeptiker, ein langes Streitgespräch geführt, das im Internet noch immer nachzulesen ist. Rahmstorf gibt darin zu, dass manche Argumente Alvenslebens durchaus ernst zu nehmen sind. Bert Bolin, der Gründervater des Weltklimarates IPCC, stellt in einem Buch, das in seinem Todesjahr 2007 erschienen ist, offen dar, wie unsicher er selbst sich lange Zeit gewesen sei. 1995 kritisierte er noch die damalige deutsche Umweltministerin Angela Merkel für ihren angeblichen Alarmismus. Ein fulminanter Verfechter der These vom menschengemachten Klimawandel schrieb mir einmal, man sollte Bolins Buch in den Giftschrank stellen, damit Studenten es nicht läsen. Das hielte ich für grundfalsch.
Ein Forscherleben zwischen Technik und Natur
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mü. Bielefeld · Wer Joachim Radkau in seinem Bielefelder Wohnhaus besucht, ahnt sofort, dass er es mit einem ausgesprochenen Naturfreund zu tun hat: Während die Nachbarhäuser kahl sind, ist das Haus der Radkaus über und über bewachsen. Das Efeu an den Wänden wirke wärmedämmend, sagt Radkaus Ehefrau Orlinde, die eigentliche Herrin des verwunschenen Gartens. Der 76-jährige Joachim Radkau wirkte bis zu seiner Emeritierung als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld. In seiner 1980 erschienenen Habilitationsschrift beschäftigte er sich mit «Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft». 2011 erschien «Die Ära der Ökologie – eine Weltgeschichte», ein beinahe 800 Seiten starkes Standardwerk über die Entstehung und Entwicklung der ökologischen Bewegung. Es ist auch Radkaus Bewegung, wie er im Vorwort freimütig bekennt. Seine professionelle Distanz verliert er dennoch nie.
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