Ich habe mal was positives zur EU. Hinter der Bezahlschranke von SPIEGEL.de hervorgeholt
Im Kosmos der Karikaturen ist Europa Schnecke oder Hydra, Schlangengrube, Saustall. Die EU kann kranker Mann sein, Greisin im Rollstuhl, ein vernachlässigtes Kind, eine traurige Frau, mit Stier oder ohne. Es gibt Europa als Ballon, dem die Luft ausgeht, als Rennwagen ohne Motor, als entgleisten Zug, als sinkendes Schiff, als Jumbojet, zu groß für jede Landebahn. Der Kontinent wurde als ödes Gebirge aus lauter EU-Gipfeln ins Bild gesetzt, als Müllhalde aus Aktenordnern, als vergiftetes Schlaraffenland, in dem die Milch- und Weinseen schwappen. Europa als Karikatur – ist Kartenhaus, Bruchbude, brennende Hütte, maroder Tempel, immer Ruine.
DIE SANFTE MACHT
Der Gedanke, dass die Europäische Union in Wahrheit eine Weltmacht ist, trotz allem, kommt den Zeichnern nie.
Die Nachrichten sprechen ja auch eine andere Sprache. Im Spiegel der Aktualität, in den Twitter-Gewittern unserer Zeit, sieht die EU oft genauso kaputt aus, wie ihre schlimmsten Feinde sie beschreiben. Dann blockiert Zypern im Alleingang europäische Sanktionen gegen die belarussische Diktatur. Dann unterhöhlen Ungarns und Polens Regierungen rücksichtslos den Rechtsstaat. Dann enden quälende Verhandlungen über eine kontinentale, gemeinsame Flüchtlingspolitik wieder und wieder in einem schäbigen Nichts. Oder die seit Jahrzehnten falsche Agrarpolitik wird noch einmal zementiert. Oder die Beschaffung von Impfstoffen gibt nach ermutigendem Beginn doch wieder Anlass für kleinlichen Streit, befeuert von 27 nationalen Interessen. Wahrlich, eine Weltmacht stellt man sich anders vor.
Gleich mehrere Male stand die EU in den vergangenen zehn, zwölf Jahren so nah am Abgrund, dass der Absturz unausweichlich schien. Die große Finanzkrise von 2007 und 2008 wurde zur Griechenlandkrise und zu einer europäischen Staatsschuldenkrise. Zweifel an der Grundkonstruktion des Staatenbunds wurden laut, nicht nur vorgetragen von den neuen Populisten, die nun in allen Ländern auf den Plan traten. Aus Finanzkrisen wurden Sinnkrisen, aus Flüchtlingskrisen wurden Existenzkrisen. Die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, wirkte 2016 nur wie der letzte Nagel im Sargdeckel eines historischen Experiments, mit dem die Völker Europas nie zu fremdeln aufgehört hatten.
Dass sich die Lage beruhigt hat, liegt nicht zuletzt daran, dass der Brexit die EU, indem er sie nicht zerstören konnte, fürs Erste gerettet hat. Der Londoner Zirkus, das Hin und Her der Brüsseler Verhandlungen hatten auch den Effekt, dass vielen Europäern vielleicht zum ersten Mal klar wurde, wie engmaschig ihre Länder in der EU miteinander verstrickt sind. Das sonst so abstrakte Gebilde wurde konkret, und so amüsant das parlamentarische Blöken an der Themse manchmal wirken mochte, so verrückt war es auch, dass diese Insulaner wirklich glaubten, besser allein durch die Welt zu kommen als im europäischen Verbund.
Die Erkenntnis, dass eine EU-Mitgliedschaft nicht so einfach kündbar ist, wird künftige Streitereien entschärfen. Die diversen Exit-Debatten, die populistische Parteien in vielen Ländern der Union hoffnungsvoll angezettelt hatten, vorneweg in Frankreich, sind dank Brexit so gut wie verstummt. Wer heute EU-Austritte fordert, landet selbst im Aus. Für das politische Klima in Europa ist das ein bedeutender Fortschritt.
Besser drin zu sein als draußen, diese Mehrheitsmeinung in den 27 Gesellschaften der EU wird sich wohl nicht mehr leicht erschüttern lassen. Und wenn man Bürgerinnen und Bürger zwischen Dublin und Zypern, Malta und Helsinki nach ihrem Vertrauen in die EU befragt, sind die Zustimmungswerte zwar nicht berauschend, aber auch nicht besorgniserregend.
War es vor dem Brexit so, dass vielen Europäern das Gefühl für die Abläufe des Brüsseler Machtspiels fehlte, hat sich seither ein politischer Bildungsschub ereignet. Die Rollenverteilung zwischen den EU-Institutionen ist deutlicher geworden, die Aufgaben der Kommission und des Rates der nationalen Regierungen werden besser verstanden.
Es wäre übertrieben zu behaupten, dass eine europäische Öffentlichkeit nun aufmerksam dem Brüsseler Politikbetrieb folgt, aber immerhin gibt es dort jetzt ein paar Köpfe, die jeder Europäer kennt, und so bekommt Europa nach und nach ein Gesicht.
Ein adäquates Gefühl für das Gewicht der Europäischen Union in der Welt gibt es dagegen gar nicht. Es hat eine Art Pendelschlag stattgefunden von der Selbstüberschätzung nach Euroeinführung und Osterweiterung hin zu einem ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex heute.
Gefangen in der Erzählung vom Abstieg Europas, machen sich heute viele Europäer Sorgen um die Zukunft – und falsche Vorstellungen von den realen Kräfteverhältnissen in der Welt der Gegenwart.
Die EU ist nicht mickrig und unbedeutend, sondern das ganze Gegenteil: ein Gigant, der das Leben auf Erden entscheidend mitgestaltet.
Es gibt viele Messgrößen, um ökonomische Stärke zu beschreiben, sie sind alle umstritten, aber mangels Alternativen trotzdem in Verwendung. Die Rede ist dann von der Gesamtwirtschaftsleistung (dem Bruttoinlandsprodukt oder BIP) oder vom BIP pro Kopf. Man kann auch aus Im- und Exporten von Gütern und Dienstleistungen Leistungsbilanzen berechnen, um den Erfolg oder die Attraktivität eines Landes zu bestimmen. Was die EU der 27 angeht, so ist es ziemlich gleichgültig, welchen Leisten man anlegt: Sie zählt nach allen Kriterien immer zu den Top drei in der Welt, ist auf vielen Feldern die Nummer eins vor den USA und kann in vielen Belangen auch China noch auf Jahrzehnte hinaus übertreffen.
Die EU ist der wichtigste Exportmarkt für die USA, Indien, Südafrika und Russland, sie ist der zweitgrößte Absatzmarkt für China und Brasilien, der drittgrößte für Japan und Südkorea. Drei Viertel der südafrikanischen Ausfuhren an Früchten und Nüssen gehen in die EU, 87 Prozent der amerikanischen Pharmaexporte, 51 Prozent des auf dem Weltmarkt gehandelten brasilianischen Kaffees, 45 Prozent der indischen Textilausfuhren, 40 Prozent des in China für den Weltmarkt hergestellten Spielzeugs. Diese Zahlen reden von einer europäischen Marktmacht und Kaufkraft, die schwindlig machen.
Nicht China, sondern Europa ist der größte Partner des aufstrebenden afrikanischen Kontinents, und zwar mit Abstand. Ein Drittel aller afrikanischen Exporte geht in die EU, 40 Prozent der in Afrika getätigten Investitionen von Ausländern stammen aus der EU. Investoren aus den 27 EU-Ländern waren im Jahr 2017 mit 222 Milliarden Euro in Afrika engagiert, Amerikaner nur mit 42 Milliarden, Chinesen mit 38 Milliarden.
Die Vorstellung, von blumigen Reportagen auf allen Kanälen befördert, China sei der größte Player auf dem afrikanischen Kontinent, ist schlichtweg falsch. Überdies stellen die EU und ihre Mitgliedstaaten mehr als die Hälfte allen Geldes für die weltweite Entwicklungshilfe bereit. Und sie sind auch, nicht zu vergessen, die größten Geldgeber der Organisationen der Vereinten Nationen.
Dass die amerikanischen, koreanischen und japanischen Giganten der Unterhaltungs- und Digitalindustrie ohne Europa einpacken könnten, zeigen Zahlen wie die, dass Apple beispielsweise im Quartal Juli bis September 2020 trotz Covid-19 in Europa 16,9 Milliarden Dollar Umsatz gemacht hat. Google erzielt in Europa mit einem Marktanteil von 90 Prozent bei den Suchdiensten Werbeumsätze in Milliardenhöhe. Facebook zählt in Europa 277 Millionen tägliche Nutzer, mehr als in den USA.
Europas Marktmacht rührt auch aus dem vergleichsweise hohen Lebensstandard seiner Bewohner. Eine Kennzahl dafür ist die Berechnung der Wirtschaftsleistung pro Kopf unter Berücksichtigung der Kaufkraft. Je größer sie ist, desto höher wird das Wohlstandsniveau einer Gesellschaft eingeschätzt – und hier zeigt sich gut, dass China noch einen langen Weg vor sich hat, ehe das Land zu Europa oder den USA wird aufschließen können.
In den USA liegt das BIP pro Kopf bei jährlich etwa 65 000 Dollar, in Deutschland bei etwa 54 000, im EU-weiten Durchschnitt bei um die 47 000 Dollar. Chinas BIP pro Kopf wird mit 16 700 Dollar berechnet. Und in Indien liegt diese Kennziffer bei 7000 Dollar.
Nun werden solche Rechnungen gern wie die Medaillenspiegel Olympischer Spiele gelesen, es wäre aber allen mehr geholfen, die Weltwirtschaft weniger als einen Wettlauf der Nationen oder gar als Krieg mit anderen Mitteln aufzufassen. Die Logik von Aufstieg und Abstieg, Siegern und Verlierern führt zu Angst und Aggressionen, und obendrein verkennt sie die Geschichtlichkeit großer ökonomischer Prozesse.
Um das Jahr 1800, als in Europa die Industrialisierung gerade Flügel bekam, lebte die Hälfte der Weltbevölkerung in Asien, und damals wurde dort auch die Hälfte der Wirtschaftsleistung erbracht. Um 1900 schon war Asiens Anteil an der Weltwirtschaft auf nur noch ein Fünftel gesunken, eben wegen Europas neuem Vorsprung durch Technik. Der Harvard-Forscher Joseph Nye, von dem noch die Rede sein wird, schlägt deshalb vor, nicht immerfort von einem Aufstieg Asiens und Chinas zu reden, sondern schlicht von deren Rückkehr.
So gesehen ist auch kein Umbruch zu verhandeln, sondern eine Art sehr langfristiger Normalisierung. Eher »unnatürliche« ökonomische und soziale Ungleichgewichte verschwinden wieder, die im Weltmaßstab extrem waren und extrem ungesund. Chinas Vormarsch hat auch keineswegs nur Nachteile. Da die Weltwirtschaft durch Asiens Erholung insgesamt wächst, wird der zu teilende Kuchen insgesamt größer, auch für die Europäer.
Sie könnten sich, davon abgesehen, auch in aller Bescheidenheit daran erinnern, dass sie selbst einst aus den Trümmern eines Weltkriegs erst mühsam wieder zurückkehren mussten. Für den Fall also, dass China auf Dauer nicht nach Herrschaft strebt, sondern in fairem Wettbewerb seinen Platz in der Weltwirtschaft und Weltgemeinschaft sucht, sollten die Europäer diesen Prozess begrüßen, begleiten und mitgestalten. Die in der Weihnachtszeit erzielte grundsätzliche Übereinkunft über ein Handelsabkommen mit China weist in diese Richtung und wird neue Chancen eröffnen, über Fragen des Arbeitsschutzes und der Menschenrechte zu sprechen.
So oder so muss sich China schon jetzt in vielen Belangen den Ideen und Vorschriften Europas fügen. Denn die EU ist nicht nur eine ökonomische Supermacht, sie ist heute vor allem der globale Regulator Nummer eins.
Tagtäglich geschehen rund um den Globus wundersame Dinge, von denen die meisten Europäer nichts ahnen. Technikkonzerne in Kalifornien bauen ihre Geräte nach EU-Vorschriften. Kakaoproduzenten in Ghana und Ecuador krempeln ihre Betriebe um, damit sie europäische Normen erfüllen. In Argentinien, Israel und Russland berufen sich Kläger gegen Internetfirmen auf das in Europa formulierte »Recht auf Vergessenwerden«. Regionale Staatenbünde in Südamerika organisieren sich nach dem Vorbild der EU. In Europa verfasste Gesetze werden in Ländern rund um die Welt fast wortgleich in dortiges nationales Recht übernommen.
Fast-Food-Ketten wie McDonald's, Subway, Wendy's nehmen chemische Zusätze aus ihren Produkten, weil die EU sie nicht erlaubt. Die brasilianische Firma Citrosuco, weltgrößter Hersteller von Orangensaft, hält sich strikt an europäische Vorgaben, auch in Ländern, wo diese von Rechts wegen gar nicht gelten. Adidas, Nike, Zara verändern weltweit die Rezepturen des Plastiks in Turnschuhen, um weniger giftige, EU-konforme Ware herzustellen. Es ist eine unerhörte Liste. Und sie ist sehr lang.
Wenn sich Microsoft, Google, Apple, Intel oder andere Großfirmen gegenseitig wegen Wettbewerbsvergehen verklagen, tun sie es nicht nur in San Francisco oder New York, sondern rufen die EU-Kommission als Schlichter an und streiten sich dann vor Europas hohen Gerichten. Fusionen amerikanischer Großfirmen werden von europäischen Behörden erlaubt oder verboten.
Europas Auffassung vom Datenschutz, niedergelegt in der Datenschutzgrundverordnung, ist binnen Kurzem zum globalen Standard geworden, den keine Firma, kein Land ignorieren kann. Allein Google musste nach eigener Aussage »Hunderte Jahre menschlicher Arbeitszeit« leisten, um die Brüsseler Regeln umzusetzen, hat es aber zähneknirschend getan. Die 500 größten Firmen Amerikas geben fortlaufend Milliarden aus, um Auflagen der EU umzusetzen, und das ist bei den größten asiatischen, afrikanischen, südamerikanischen Unternehmen nicht anders. Die cleversten unter ihnen arbeiten schon heute daran, ihren CO²-Ausstoß zu verringern, mit Blick auf die »Carbon Tax«, das kommende System von CO²-Steuern, an dem die EU seit Jahren arbeitet.
Aus den Beispielen ergibt sich der ebenso unglaubliche wie korrekte Befund, dass die Globalisierung heute eine »Europäisierung« ist – und das hat nicht in Werbebroschüren der EU gestanden, sondern im britischen Magazin »Economist«, dem Pflichtblatt liberaler Kapitalisten.
Einen Global Player wie das heutige Europa hat es in dieser Form in der Weltgeschichte noch nicht gegeben. Indem die EU Schritt für Schritt die Angelegenheiten ihres Binnenmarkts regelt, formuliert sie nebenbei weltweit wirksame Standards. Egal, ob es um Chemikalien, Sondermüll, Hormonfleisch, Elektroschrott, Abgasnormen, Tierversuche, Kartellrecht, Privatsphäre, Pflanzenschutz, Wettbewerb oder Luftreinhaltung geht – die EU ist immer irgendwie schon da.
Sie setzt – gestützt auf wissenschaftliche Erkenntnisse und ausgestattet mit anerkannter sachlicher, juristischer und auch moralischer Kompetenz – weltweit Normen und Kriterien, selbst dort, wo sie von Rechts wegen eigentlich nichts zu melden hätte. Es ist deshalb nicht falsch zu sagen, dass die Europäische Union die Welt jeden Tag ein bisschen besser macht, ein bisschen sauberer, ein bisschen gesünder, sicherer, nachhaltiger.
»EU-Gesetze bestimmen, wie in Indonesien Holz geschlagen wird, wie die Brasilianer Honig produzieren, welche Pestizide Kakaobauern in Kamerun einsetzen und welches Gerät in chinesischen Milchfabriken zum Einsatz kommt«, schreibt Anu Bradford, eine aus Finnland stammende Juraprofessorin an der New Yorker Columbia-Universität. Sie hat mit ihren Mitarbeitern in einer großen Fleißarbeit viele der hier zitierten Fakten gesammelt. Das zugehörige Buch, »The Brussels Effect«, erschienen Anfang 2020, trägt den Untertitel: »Wie die Europäische Union die Welt regiert«. Dem SPIEGEL sagte Bradford auf die Frage, ob das nicht doch eine zu steile These sei: »Keineswegs! Europa ist nur, im Gegensatz zu traditionellen Vorstellungen, eine leise Weltmacht, und genau darauf beruht ihr Erfolg.«
In ihrem Buch entwickelt sie auf 400 klein gedruckten Seiten das Bild einer EU, die mal direkt, mal indirekt rund um den Erdball wirkt. Es ist ein Effekt, der natürlich auf der simplen Tatsache beruht, dass Europa als Wirtschaftsmacht, Absatzmarkt und Handelspartner so wichtig ist, dass außereuropäische Länder und Firmen keinesfalls von ihm abgeschnitten sein wollen. Hinzu kommt aber, dass Unternehmen, besonders die international agierenden, entgegen gängigen Annahmen an geregelten Märkten sehr interessiert sind. Klare Kriterien für alle bedeuten Planungssicherheit und fairen Wettbewerb, und weil die EU meist nicht nur irgendwelche, sondern meist die strengsten Regeln setzt, orientieren sich der Einfachheit halber viele gleich an ihr.
Es gab im Verlauf der neueren Geschichte immer führende Mächte, deren Kompetenz und Leitbildern die anderen folgten. Die Briten und Franzosen prägten das 18. und das 19. Jahrhundert, die USA das 20. Jahrhundert nach den Weltkriegen. Bis in die Achtzigerjahre setzten die Amerikaner »Goldstandards« für die Welt. Danach verliebten sie sich aber derart in die Deregulierung, dass sie darüber die Rolle des Regulators praktisch aufgaben und schließlich verloren. In diese Lücke ist die EU gestoßen. Sie wird – was die Regeln des Produzierens, Wirtschaftens, Konsumierens und Zusammenlebens angeht – die prägende Macht des 21. Jahrhunderts sein, ein vernünftiger Hegemon.
Sie profitiert auch davon, dass in diesen Jahren Themen Karriere machen, an denen in Europa bereits seit vielen Jahren gearbeitet wird, das verstärkt den »Brüssel-Effekt« ungemein. Gerade der Datenschutz war, schon lange vor den Skandalen und Hackerattacken unserer Zeit, in Europa ein alter Hut. Nun reißen sich viele um die europäischen Erfahrungen damit. Aber auch in Fragen der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit, die in anderen Weltregionen lange keine Konjunktur hatten, hat Europa Kompetenz aufgebaut, die sich anderswo nicht auf die Schnelle nachholen lässt. Die EU wird also kopiert, und ihre Konzepte begleiten ganze Länder, die sich auf dem Weg in die Wohlstandsgesellschaft befinden.
»Die EU«, sagt Anu Bradford, »leistet mit großer Expertise auf vielen Feldern die harte Arbeit der Gesetzgebung und wird als Autorität in vielen Fragen anerkannt.« Dass die Texte auch immer gleich in einigen der großen Weltsprachen vorliegen, schadet nicht. Und so macht die Union weltweit Schule, als Vorbild, als Taktgeberin, als Problemlöserin, als Schlichterin.
Der Vorwurf, wie zuletzt Donald Trump ihn formuliert hat, dies alles geschehe doch nur aus dem europäischen Interesse, sich selbst vor Wettbewerb zu schützen, wirkt plausibel, lässt sich aber nur schwer erhärten. Bradford widmet dem ein ganzes Kapitel ihres Buches und kommt zu dem Schluss, dass die EU keine protektionistischen Ziele verfolge. Sie stellt ihre Regeln ja auch gar nicht für andere auf, sondern nur für ihren eigenen Markt. Es kann einem so vorkommen, als wäre Europa die smarteste Weltmacht geworden, die es je gab.
Die Unterscheidung zwischen »weicher« und »harter« Macht, soft und hard power, stammt von Joseph Nye, dem erwähnten Harvard-Professor. Nye ist Jahrgang 1937 und also längst im Ruhestand, aber er forscht und veröffentlicht dennoch weiter. Erst vor ein paar Wochen hat er in einer Fachzeitschrift wieder zugelangt und in kurzen Strichen sein Denken skizziert. Nye ist überzeugt davon, dass es ohne hard power nicht geht, aber, schreibt er, »militärische Macht ist ein stumpfes Instrument«. Für heutige Mächte gehe es darum, soft und hard zu »smart« zu verbinden.
Raketen und Kriegsschiffe, meint Nye, helfen weder bei der Bekämpfung der Erderwärmung noch beim Schutz der Privatsphäre oder bei der Bankenaufsicht. Sie blieben aber, schreibt Nye dem SPIEGEL auf Fragen per E-Mail, »notwendige, wenn auch nicht hinreichende Mittel zur Verteidigung der liberalen Demokratien«. Hier hat die EU Defizite, die weniger die Kapazitäten als vielmehr die Koordination zwischen ihren Mitgliedern betreffen und deren Willen, die Sicherheitspolitik vom Nationalstaat zu entkoppeln.
Wenn man die Militärausgaben von 2019 zugrunde legt und das inzwischen ausgetretene Großbritannien bereits ignoriert, stehen die Länder der EU gemeinsam für rund 12 Prozent der weltweiten Militärausgaben. Sie liegen damit weit hinter den USA, deren Anteil bei rund 39 Prozent liegt, aber vor China mit 10 und deutlich vor Russland mit 3,5 Prozent. Diese Zahlen mögen sich zugunsten Chinas verschieben, aber sie zeigen doch, dass Europa, häufig als außen- und sicherheitspolitisch impotent verspottet, in militärischer Hinsicht eigentlich auf Augenhöhe mit den großen Mächten unterwegs wäre, wenn es ihm denn gelänge, die national zersplitterte »harte« Macht zu einer europäischen zu vereinen.
Warum dies dringlich ist, lässt sich leicht beantworten. Wer in Fragen von Krieg und Frieden mitreden will, wem es um Menschenrechte geht, braucht nicht nur Werte und Argumente, sondern auch militärisches Gewicht. Das Gleiche gilt für die eigene Sicherheit. Der Münchner Historiker Andreas Wirsching sagt, Europa habe potenziell ein handfestes Sicherheitsproblem. »Die Frage lautet«, sagt Wirsching, »was wäre los, wenn etwas los wäre?« Die EU sei gewiss »eine Macht von weltweiter Bedeutung und Strahlkraft«, aber sie könne in sie gesetzte Hoffnungen häufig nicht erfüllen. »In der Ukraine zum Beispiel«, sagt Wirsching, »da erreicht man mit soft power dann nicht mehr viel.«
Oder, in den drastischeren Worten Joseph Nyes: Wer glaube, dass hard power heute illegitim oder irrelevant sei, »sollte das einmal Ukrainern oder Georgiern erzählen, die gegen Putin kämpfen, oder den Jesiden, an denen der ›Islamische Staat‹ einen Genozid verüben wollte«.
Gefahren lauern überall. Die Bundesregierung ist derzeit besonders beunruhigt über Chinas Versuche, das Gebäude der europäischen Normen und Standards zu erschüttern und die Union aufzuweichen. Es ist bereits mehrfach vorgekommen, dass einzelne EU-Länder immer dann aus der gemeinsamen Linie ausscherten, wenn es darum ging, China zu kritisieren oder wegen Menschenrechtsverletzungen anzugehen. Ungarn und Griechenland, Kroatien, Slowenien, Tschechien pflegen eine teilweise bedenkliche Nähe zur Macht in Peking. Gefährliche neue Bruchlinien könnten sich hier auftun. Und Brüche schwächen die Europäische Union.
Wie hart sie als Macht werden will, werden muss, werden kann, ist offen. Dieser schlichte Befund allein ist nicht gut. Im Moment möchte sich niemand ausmalen, mit den Worten des Historikers Wirsching, was los wäre, wenn irgendwo an einer Außengrenze der EU etwas los wäre, also ein Krieg ausbräche, am Schwarzen Meer oder im Baltikum, im Mittelmeer. Das ist für eine Weltmacht auf Dauer kein Zustand.
Der aktuelle Hohe Vertreter der EU für auswärtige Angelegenheiten, der Spanier Josep Borrell, hat die heutige EU-Außenpolitik mit der Zeit der Einführung des Euro verglichen, in der anfangs die alten nationalen Währungen und das neue Geld nebeneinander im Umlauf waren. Für den Moment, sagte Borrell der »Frankfurter Allgemeinen« kurz vor seinem Amtsantritt vor gut einem Jahr, müsse auch die EU-Außenpolitik mit den nationalen Außenpolitiken koexistieren. Es gehe darum, dass die Schnittmengen mit der Zeit immer größer würden.
Zeit spielt in komplexen Bündnissen wie der EU eine große Rolle. Wer die Unfähigkeit der 27 Staaten zu einer schlüssigen Außen- und Sicherheitspolitik beklagt, vergisst häufig, dass die Union nach historischen Begriffen ein sehr junges Gebilde ist. 16 der heute 27 Mitgliedstaaten sind erst in der Zeit seit 1995 beigetreten, 13 davon kamen erst seit 2004 hinzu. Im Ergebnis müssen nun die Interessen der Insel Malta mit jenen der Atommacht Frankreich versöhnt werden, die Anliegen der baltischen Staaten mit denen Zyperns, und Schweden soll sich für die sicherheitspolitischen Sorgen Bulgariens interessieren und umgekehrt.
Es ist, nach mindestens zwei Jahrhunderten des eingefleischten nationalen Denkens, wirklich keine leichte Übung.
Kann sie gelingen? Es ist die größte Baustelle bei der Fortentwicklung der EU. Im Auswärtigen Amt am Werderschen Markt in Berlin ist man professionell zuversichtlich. Die Einigung der EU-Staaten aus dem vergangenen Sommer, für ein Corona-Hilfsprogramm gemeinsam Schulden aufzunehmen und viel Geld als Zuschuss und nicht als Kredit zu gewähren, sei ein Durchbruch gewesen, heißt es, ein »historischer Sprung nach vorn«.
Aber wie das so geht in den Machtzirkeln Europas, wurde aus dem schönen Sprung ein hässliches Gewürge. Die Blockade Ungarns und Polens brachte bis kurz vor Weihnachten 2020 eine neue schwere Krise. Neuerlich wurden die Bruchstellen des EU-Betriebs sichtbar, der immer dann besonders hilflos wirkt, wenn Regierungen einzelner Mitgliedstaaten ihre Varianten des Trumpismus aufführen. Aber immer dann zeigt sich auch die Resilienz der Union. Sie schwankt oft, aber sie sinkt nicht.
Ihr Weg durch die jüngste Geschichte gleicht einer »Achterbahn«, so heißt auch das Buch des Historikers Ian Kershaw zum Thema. Und so wird es weitergehen, als Großbaustelle, auf der das Durchwurschteln manchmal keine Schwäche, sondern eine gute Idee ist.
Der einstige US-Botschafter Richard Morningstar, in den Jahren um die Jahrtausendwende Amerikas Chefdiplomat in Brüssel, beschreibt es auf amüsante Weise: »Die Europäische Union macht gern zwei Schritte vorwärts und dann anderthalb zurück«, sagt Morningstar, »aber das ist auch Fortschritt.«
Vor gut 20 Jahren zogen deutsche und andere Professoren um die Häuser, um vor dem Euro und seinen entsetzlichen Folgen für unser aller Wohlstand zu warnen. Darauf käme heute, da der Euro die betonharte Zweitwährung der Welt ist, kaum einer mehr.
Auch die ewige Furcht vor einem Brüsseler Kraken, der alle Demokratie aus den Mitgliedsländern absaugt, hat sich nicht bestätigt. Ebenso wenig hat sich der Zerfall der Union ereignet, aus wechselnden Anlässen immer wieder vorhergesagt.
Der Fehler ist, Momentaufnahmen für einen Gesamteindruck zu halten. Ja, daran können auch die Medien schuld sein, aber es betrifft auch tiefer liegende Strukturen menschlichen Denkens.
Der Europäer Hans Rosling, ein Schwede, hat sich zu seinen Lebzeiten darum bemüht, als Arzt Menschen zu helfen und als Forscher die allgemeine Blindheit für das langsam Wachsende und unauffällig Fortschreitende zu heilen. Der Untertitel seines bemerkenswerten Buches »Factfulness« lautet: »Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist«. Sie ist laut Rosling vor allem viel gesünder, viel wohlhabender, viel fortgeschrittener und viel besser, als die meisten Menschen denken.
Es ging Rosling nicht um Schönfärberei oder um die bequeme Behauptung, alles sei nur halb so schlimm – das wusste er, der in armen Gegenden Afrikas und Asiens gearbeitet hatte, besser. Er wollte aber doch die frohe Botschaft unter die Leute bringen, dass der Fortschritt zwar eine Schnecke ist, aber trotzdem stattfindet, und dass es eben nicht vergebens ist, sich um ihn zu bemühen. Man könnte seine Haltung in den Satz fassen: Wer immer nur die Hände ringt, hat keine Hand frei, um die Ärmel aufzukrempeln. Rosling macht Mut.
Seine Art zu denken würde auch mit Blick auf die EU guttun. Man könnte sich dann als Europäer ab und zu vergegenwärtigen, dass der Bund der europäischen Staaten für Hunderte Millionen Menschen eine Maschine für Frieden und Wohlstand und Lebenschancen war und ist. Man könnte für einen Moment lang stolz sein auf das Erreichte, auf eine erstaunliche Erfolgsgeschichte. Darauf, dass im Laufe der Jahrzehnte dank europäischer initiativen wirklich vieles besser wurde für viele Menschen.
Aber die Europäische Union wird von den Zeitgenossen – darin den Vereinten Nationen ähnlich – oft nur auf ihre Mängel abgeklopft. Auch wird die EU gern allein an ihrer Fähigkeit zu schnellem Handeln gemessen und zu selten nach der Leistung, mit Ruhe und Beharrlichkeit Schritt für Schritt ein Ziel zu verfolgen. Und natürlich wird häufig vergessen, dass die EU ein Bund von 27 Staaten ist. Sind sie sich einig, ist Europa stark. Sind sie uneins, dann hilft auch die beste EU nicht viel.
Die Europäische Union wird auf Dauer – und mit Dauer sind Jahre und Jahrzehnte gemeint – daran gemessen werden, ob sie ihre Ziele erreicht, und sie nimmt sich ja immer nur Großes vor. Frieden bewahren, Weltklima retten, Naturzerstörung beenden, Menschen schützen, Wohlstand mehren, Leben verbessern, Glück suchen.
Die meisten Europäer finden diese Ziele so selbstverständlich, dass sie die schönen Worte kaum mehr hören und alles drum herum gern als Sonntagsreden abtun. So geraten sie in Gefahr, nicht mehr zu sehen, was der Rest der Welt spielend erkennt: dass es gelungen ist, einen ganzen Kontinent, auf dem sich die Menschen jahrhundertelang zerfleischten, zu einem Modell für das 21. Jahrhundert zu machen.
Viel mehr Weltmacht geht nicht.