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Halbdaggl
Ich habe mal was positives zur EU. Hinter der Bezahlschranke von SPIEGEL.de hervorgeholt
Gibt’s des:
Im Kos­mos der Ka­ri­ka­tu­ren ist Eu­ro­pa Schne­cke oder Hy­dra, Schlan­gen­gru­be, Sau­stall. Die EU kann kran­ker Mann sein, Grei­sin im Roll­stuhl, ein ver­nach­läs­sig­tes Kind, eine trau­ri­ge Frau, mit Stier oder ohne. Es gibt Eu­ro­pa als Bal­lon, dem die Luft aus­geht, als Renn­wa­gen ohne Mo­tor, als ent­gleis­ten Zug, als sin­ken­des Schiff, als Jum­bo­jet, zu groß für jede Lan­de­bahn. Der Kon­ti­nent wur­de als ödes Ge­bir­ge aus lau­ter EU-Gip­feln ins Bild ge­setzt, als Müll­hal­de aus Ak­ten­ord­nern, als ver­gif­te­tes Schla­raf­fen­land, in dem die Milch- und Wein­se­en schwap­pen. Eu­ro­pa als Ka­ri­ka­tur – ist Kar­ten­haus, Bruch­bu­de, bren­nen­de Hüt­te, ma­ro­der Tem­pel, im­mer Rui­ne.

DIE SANF­TE MACHT

Der Ge­dan­ke, dass die Eu­ro­päi­sche Uni­on in Wahr­heit eine Welt­macht ist, trotz al­lem, kommt den Zeich­nern nie.

Die Nach­rich­ten spre­chen ja auch eine an­de­re Spra­che. Im Spiegel der Ak­tua­li­tät, in den Twit­ter-Ge­wit­tern un­se­rer Zeit, sieht die EU oft ge­nau­so ka­putt aus, wie ihre schlimms­ten Fein­de sie be­schrei­ben. Dann blo­ckiert Zy­pern im Al­lein­gang eu­ro­päi­sche Sank­tio­nen ge­gen die belarus­si­sche Dik­ta­tur. Dann un­ter­höh­len Un­garns und Po­lens Re­gie­run­gen rück­sichts­los den Rechts­staat. Dann en­den quä­len­de Ver­hand­lun­gen über eine kon­ti­nen­ta­le, ge­mein­sa­me Flücht­lings­po­li­tik wie­der und wie­der in ei­nem schä­bi­gen Nichts. Oder die seit Jahr­zehn­ten fal­sche Agrar­po­li­tik wird noch ein­mal ze­men­tiert. Oder die Be­schaf­fung von Impf­stof­fen gibt nach er­mu­ti­gen­dem Be­ginn doch wie­der An­lass für klein­li­chen Streit, be­feu­ert von 27 na­tio­na­len In­ter­es­sen. Wahr­lich, eine Welt­macht stellt man sich an­ders vor.

Gleich meh­re­re Male stand die EU in den ver­gan­ge­nen zehn, zwölf Jah­ren so nah am Ab­grund, dass der Ab­sturz un­aus­weich­lich schien. Die gro­ße Fi­nanz­kri­se von 2007 und 2008 wur­de zur Grie­chen­land­kri­se und zu ei­ner eu­ro­päi­schen Staats­schul­den­kri­se. Zwei­fel an der Grund­kon­struk­ti­on des Staa­ten­bunds wur­den laut, nicht nur vor­ge­tra­gen von den neu­en Po­pu­lis­ten, die nun in al­len Län­dern auf den Plan tra­ten. Aus Fi­nanz­kri­sen wur­den Sinn­kri­sen, aus Flücht­lings­kri­sen wur­den Exis­tenz­kri­sen. Die Ent­schei­dung der Bri­ten, die EU zu ver­las­sen, wirk­te 2016 nur wie der letz­te Na­gel im Sarg­de­ckel ei­nes his­to­ri­schen Ex­pe­ri­ments, mit dem die Völ­ker Eu­ro­pas nie zu frem­deln auf­ge­hört hat­ten.

Dass sich die Lage be­ru­higt hat, liegt nicht zu­letzt dar­an, dass der Brex­it die EU, in­dem er sie nicht zer­stö­ren konn­te, fürs Ers­te ge­ret­tet hat. Der Lon­do­ner Zir­kus, das Hin und Her der Brüs­se­ler Ver­hand­lun­gen hat­ten auch den Ef­fekt, dass vie­len Eu­ro­pä­ern viel­leicht zum ers­ten Mal klar wur­de, wie eng­ma­schig ihre Län­der in der EU mit­ein­an­der ver­strickt sind. Das sonst so abs­trak­te Ge­bil­de wur­de kon­kret, und so amü­sant das par­la­men­ta­ri­sche Blö­ken an der Them­se manch­mal wir­ken moch­te, so ver­rückt war es auch, dass die­se In­su­la­ner wirk­lich glaub­ten, bes­ser al­lein durch die Welt zu kom­men als im eu­ro­päi­schen Ver­bund.

Die Er­kennt­nis, dass eine EU-Mit­glied­schaft nicht so ein­fach künd­bar ist, wird künf­ti­ge Strei­te­rei­en ent­schär­fen. Die di­ver­sen Exit-De­bat­ten, die po­pu­lis­ti­sche Par­tei­en in vie­len Län­dern der Uni­on hoff­nungs­voll an­ge­zet­telt hat­ten, vor­ne­weg in Frank­reich, sind dank Brex­it so gut wie ver­stummt. Wer heu­te EU-Aus­trit­te for­dert, lan­det selbst im Aus. Für das po­li­ti­sche Kli­ma in Eu­ro­pa ist das ein be­deu­ten­der Fort­schritt.

Bes­ser drin zu sein als drau­ßen, die­se Mehr­heits­mei­nung in den 27 Ge­sell­schaf­ten der EU wird sich wohl nicht mehr leicht er­schüt­tern las­sen. Und wenn man Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zwi­schen Dub­lin und Zy­pern, Mal­ta und Hel­sin­ki nach ih­rem Ver­trau­en in die EU be­fragt, sind die Zu­stim­mungs­wer­te zwar nicht be­rau­schend, aber auch nicht be­sorg­nis­er­re­gend.

War es vor dem Brex­it so, dass vie­len Eu­ro­pä­ern das Ge­fühl für die Ab­läu­fe des Brüs­se­ler Macht­spiels fehl­te, hat sich seit­her ein po­li­ti­scher Bil­dungs­schub er­eig­net. Die Rol­len­ver­tei­lung zwi­schen den EU-In­sti­tu­tio­nen ist deut­li­cher ge­wor­den, die Auf­ga­ben der Kom­mis­si­on und des Ra­tes der na­tio­na­len Re­gie­run­gen wer­den bes­ser ver­stan­den.

Es wäre über­trie­ben zu be­haup­ten, dass eine eu­ro­päi­sche Öffent­lich­keit nun auf­merk­sam dem Brüs­se­ler Po­li­tik­be­trieb folgt, aber im­mer­hin gibt es dort jetzt ein paar Köp­fe, die je­der Eu­ro­pä­er kennt, und so be­kommt Eu­ro­pa nach und nach ein Ge­sicht.

Ein ad­äqua­tes Ge­fühl für das Ge­wicht der Eu­ro­päi­schen Uni­on in der Welt gibt es da­ge­gen gar nicht. Es hat eine Art Pen­del­schlag statt­ge­fun­den von der Selbst­über­schät­zung nach Eu­ro­ein­füh­rung und Ost­erwei­te­rung hin zu ei­nem aus­ge­präg­ten Min­der­wer­tig­keits­kom­plex heu­te.

Ge­fan­gen in der Er­zäh­lung vom Ab­stieg Eu­ro­pas, ma­chen sich heu­te vie­le Eu­ro­pä­er Sor­gen um die Zu­kunft – und fal­sche Vor­stel­lun­gen von den rea­len Kräf­te­ver­hält­nis­sen in der Welt der Ge­gen­wart.

Die EU ist nicht mick­rig und un­be­deu­tend, son­dern das gan­ze Ge­gen­teil: ein Gi­gant, der das Le­ben auf Er­den ent­schei­dend mit­ge­stal­tet.

Es gibt vie­le Mess­grö­ßen, um öko­no­mi­sche Stär­ke zu be­schrei­ben, sie sind alle um­strit­ten, aber man­gels Al­ter­na­ti­ven trotz­dem in Ver­wen­dung. Die Rede ist dann von der Ge­samt­wirt­schafts­leis­tung (dem Brut­to­in­lands­pro­dukt oder BIP) oder vom BIP pro Kopf. Man kann auch aus Im- und Ex­por­ten von Gü­tern und Dienst­leis­tun­gen Leis­tungs­bi­lan­zen be­rech­nen, um den Er­folg oder die At­trak­ti­vi­tät ei­nes Lan­des zu be­stim­men. Was die EU der 27 an­geht, so ist es ziem­lich gleich­gül­tig, wel­chen Leis­ten man an­legt: Sie zählt nach al­len Kri­te­ri­en im­mer zu den Top drei in der Welt, ist auf vie­len Fel­dern die Num­mer eins vor den USA und kann in vie­len Be­lan­gen auch Chi­na noch auf Jahr­zehn­te hin­aus über­tref­fen.

Die EU ist der wich­tigs­te Ex­port­markt für die USA, In­di­en, Süd­afri­ka und Russ­land, sie ist der zweit­größ­te Ab­satz­markt für Chi­na und Bra­si­li­en, der dritt­größ­te für Ja­pan und Süd­ko­rea. Drei Vier­tel der süd­afri­ka­ni­schen Aus­fuh­ren an Früch­ten und Nüs­sen ge­hen in die EU, 87 Pro­zent der ame­ri­ka­ni­schen Phar­ma­ex­por­te, 51 Pro­zent des auf dem Welt­markt ge­han­del­ten bra­si­lia­ni­schen Kaf­fees, 45 Pro­zent der in­di­schen Tex­til­aus­fuh­ren, 40 Pro­zent des in Chi­na für den Welt­markt her­ge­stell­ten Spiel­zeugs. Die­se Zah­len re­den von ei­ner eu­ro­päi­schen Markt­macht und Kauf­kraft, die schwind­lig ma­chen.

Nicht Chi­na, son­dern Eu­ro­pa ist der größ­te Part­ner des auf­stre­ben­den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nents, und zwar mit Ab­stand. Ein Drit­tel al­ler afri­ka­ni­schen Ex­por­te geht in die EU, 40 Pro­zent der in Afri­ka ge­tä­tig­ten In­ves­ti­tio­nen von Aus­län­dern stam­men aus der EU. In­ves­to­ren aus den 27 EU-Län­dern wa­ren im Jahr 2017 mit 222 Mil­li­ar­den Euro in Afri­ka en­ga­giert, Ame­ri­ka­ner nur mit 42 Mil­li­ar­den, Chi­ne­sen mit 38 Mil­li­ar­den.

Die Vor­stel­lung, von blu­mi­gen Re­por­ta­gen auf al­len Ka­nä­len be­för­dert, Chi­na sei der größ­te Play­er auf dem afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, ist schlicht­weg falsch. Über­dies stel­len die EU und ihre Mit­glied­staa­ten mehr als die Hälf­te al­len Gel­des für die welt­wei­te Ent­wick­lungs­hil­fe be­reit. Und sie sind auch, nicht zu ver­ges­sen, die größ­ten Geld­ge­ber der Or­ga­ni­sa­tio­nen der Ver­ein­ten Na­tio­nen.

Dass die ame­ri­ka­ni­schen, ko­rea­ni­schen und ja­pa­ni­schen Gi­gan­ten der Un­ter­hal­tungs- und Di­gi­tal­in­dus­trie ohne Eu­ro­pa ein­pa­cken könn­ten, zei­gen Zah­len wie die, dass App­le bei­spiels­wei­se im Quar­tal Juli bis Sep­tem­ber 2020 trotz Co­vid-19 in Eu­ro­pa 16,9 Mil­li­ar­den Dol­lar Um­satz ge­macht hat. Goog­le er­zielt in Eu­ro­pa mit ei­nem Markt­an­teil von 90 Pro­zent bei den Such­diens­ten Wer­be­um­sät­ze in Mil­li­ar­den­hö­he. Face­book zählt in Eu­ro­pa 277 Mil­lio­nen täg­li­che Nut­zer, mehr als in den USA.

Eu­ro­pas Markt­macht rührt auch aus dem ver­gleichs­wei­se ho­hen Le­bens­stan­dard sei­ner Be­woh­ner. Eine Kenn­zahl da­für ist die Be­rech­nung der Wirt­schafts­leis­tung pro Kopf un­ter Be­rück­sich­ti­gung der Kauf­kraft. Je grö­ßer sie ist, des­to hö­her wird das Wohl­stands­ni­veau ei­ner Ge­sell­schaft ein­ge­schätzt – und hier zeigt sich gut, dass Chi­na noch ei­nen lan­gen Weg vor sich hat, ehe das Land zu Eu­ro­pa oder den USA wird auf­schlie­ßen kön­nen.

In den USA liegt das BIP pro Kopf bei jähr­lich etwa 65 000 Dol­lar, in Deutsch­land bei etwa 54 000, im EU-wei­ten Durch­schnitt bei um die 47 000 Dol­lar. Chi­nas BIP pro Kopf wird mit 16 700 Dol­lar be­rech­net. Und in In­di­en liegt die­se Kenn­zif­fer bei 7000 Dol­lar.

Nun wer­den sol­che Rech­nun­gen gern wie die Me­dail­len­spie­gel Olym­pi­scher Spie­le ge­le­sen, es wäre aber al­len mehr ge­hol­fen, die Welt­wirt­schaft we­ni­ger als ei­nen Wett­lauf der Na­tio­nen oder gar als Krieg mit an­de­ren Mit­teln auf­zu­fas­sen. Die Lo­gik von Auf­stieg und Ab­stieg, Sie­gern und Ver­lie­rern führt zu Angst und Ag­gres­sio­nen, und oben­drein ver­kennt sie die Ge­schicht­lich­keit gro­ßer öko­no­mi­scher Pro­zes­se.

Um das Jahr 1800, als in Eu­ro­pa die In­dus­tria­li­sie­rung ge­ra­de Flü­gel be­kam, leb­te die Hälf­te der Welt­be­völ­ke­rung in Asi­en, und da­mals wur­de dort auch die Hälf­te der Wirt­schafts­leis­tung er­bracht. Um 1900 schon war Asi­ens An­teil an der Welt­wirt­schaft auf nur noch ein Fünf­tel ge­sun­ken, eben we­gen Eu­ro­pas neu­em Vor­sprung durch Tech­nik. Der Har­vard-For­scher Jo­seph Nye, von dem noch die Rede sein wird, schlägt des­halb vor, nicht im­mer­fort von ei­nem Auf­stieg Asi­ens und Chi­nas zu re­den, son­dern schlicht von de­ren Rück­kehr.

So ge­se­hen ist auch kein Um­bruch zu ver­han­deln, son­dern eine Art sehr lang­fris­ti­ger Nor­ma­li­sie­rung. Eher »un­na­tür­li­che« öko­no­mi­sche und so­zia­le Un­gleich­ge­wich­te ver­schwin­den wie­der, die im Welt­maß­stab ex­trem wa­ren und ex­trem un­ge­sund. Chi­nas Vor­marsch hat auch kei­nes­wegs nur Nach­tei­le. Da die Welt­wirt­schaft durch Asi­ens Er­ho­lung ins­ge­samt wächst, wird der zu tei­len­de Ku­chen ins­ge­samt grö­ßer, auch für die Eu­ro­pä­er.

Sie könn­ten sich, da­von ab­ge­se­hen, auch in al­ler Be­schei­den­heit dar­an er­in­nern, dass sie selbst einst aus den Trüm­mern ei­nes Welt­kriegs erst müh­sam wie­der zu­rück­keh­ren muss­ten. Für den Fall also, dass Chi­na auf Dau­er nicht nach Herr­schaft strebt, son­dern in fai­rem Wett­be­werb sei­nen Platz in der Welt­wirt­schaft und Welt­ge­mein­schaft sucht, soll­ten die Eu­ro­pä­er die­sen Pro­zess be­grü­ßen, be­glei­ten und mit­ge­stal­ten. Die in der Weih­nachts­zeit er­ziel­te grund­sätz­li­che Übe­r­ein­kunft über ein Han­dels­ab­kom­men mit Chi­na weist in die­se Rich­tung und wird neue Chan­cen er­öff­nen, über Fra­gen des Ar­beits­schut­zes und der Men­schen­rech­te zu spre­chen.

So oder so muss sich Chi­na schon jetzt in vie­len Be­lan­gen den Ide­en und Vor­schrif­ten Eu­ro­pas fü­gen. Denn die EU ist nicht nur eine öko­no­mi­sche Su­per­macht, sie ist heu­te vor al­lem der glo­ba­le Re­gu­la­tor Num­mer eins.

Tag­täg­lich ge­sche­hen rund um den Glo­bus wun­der­sa­me Din­ge, von de­nen die meis­ten Eu­ro­pä­er nichts ah­nen. Tech­nik­kon­zer­ne in Ka­li­for­ni­en bau­en ihre Ge­rä­te nach EU-Vor­schrif­ten. Ka­kao­pro­du­zen­ten in Gha­na und Ecua­dor krem­peln ihre Be­trie­be um, da­mit sie eu­ro­päi­sche Nor­men er­fül­len. In Ar­gen­ti­ni­en, Is­ra­el und Russ­land be­ru­fen sich Klä­ger ge­gen In­ter­net­fir­men auf das in Eu­ro­pa for­mu­lier­te »Recht auf Ver­ges­sen­wer­den«. Re­gio­na­le Staa­ten­bün­de in Süd­ame­ri­ka or­ga­ni­sie­ren sich nach dem Vor­bild der EU. In Eu­ro­pa ver­fass­te Ge­set­ze wer­den in Län­dern rund um die Welt fast wort­gleich in dor­ti­ges na­tio­na­les Recht über­nom­men.

Fast-Food-Ket­ten wie Mc­Do­nal­d's, Sub­way, Wen­dy­'s neh­men che­mi­sche Zu­sät­ze aus ih­ren Pro­duk­ten, weil die EU sie nicht er­laubt. Die bra­si­lia­ni­sche Fir­ma Ci­tro­suco, welt­größ­ter Her­stel­ler von Oran­gen­saft, hält sich strikt an eu­ro­päi­sche Vor­ga­ben, auch in Län­dern, wo die­se von Rechts we­gen gar nicht gel­ten. Adi­das, Nike, Zara ver­än­dern welt­weit die Re­zep­tu­ren des Plas­tiks in Turn­schu­hen, um we­ni­ger gif­ti­ge, EU-kon­for­me Ware her­zu­stel­len. Es ist eine un­er­hör­te Lis­te. Und sie ist sehr lang.

Wenn sich Mi­cro­soft, Goog­le, App­le, In­tel oder an­de­re Groß­fir­men ge­gen­sei­tig we­gen Wett­be­werbs­ver­ge­hen ver­kla­gen, tun sie es nicht nur in San Fran­cis­co oder New York, son­dern ru­fen die EU-Kom­mis­si­on als Schlich­ter an und strei­ten sich dann vor Eu­ro­pas ho­hen Ge­rich­ten. Fu­sio­nen ame­ri­ka­ni­scher Groß­fir­men wer­den von eu­ro­päi­schen Be­hör­den er­laubt oder ver­bo­ten.

Eu­ro­pas Auf­fas­sung vom Da­ten­schutz, nie­der­ge­legt in der Da­ten­schutz­grund­ver­ord­nung, ist bin­nen Kur­zem zum glo­ba­len Stan­dard ge­wor­den, den kei­ne Fir­ma, kein Land igno­rie­ren kann. Al­lein Goog­le muss­te nach ei­ge­ner Aus­sa­ge »Hun­der­te Jah­re mensch­li­cher Ar­beits­zeit« leis­ten, um die Brüs­se­ler Re­geln um­zu­set­zen, hat es aber zäh­ne­knir­schend ge­tan. Die 500 größ­ten Fir­men Ame­ri­kas ge­ben fort­lau­fend Mil­li­ar­den aus, um Auf­la­gen der EU um­zu­set­zen, und das ist bei den größ­ten asia­ti­schen, afri­ka­ni­schen, süd­ame­ri­ka­ni­schen Un­ter­neh­men nicht an­ders. Die cle­vers­ten un­ter ih­nen ar­bei­ten schon heu­te dar­an, ih­ren CO²-Aus­stoß zu ver­rin­gern, mit Blick auf die »Car­bon Tax«, das kom­men­de Sys­tem von CO²-Steu­ern, an dem die EU seit Jah­ren ar­bei­tet.

Aus den Bei­spie­len er­gibt sich der eben­so un­glaub­li­che wie kor­rek­te Be­fund, dass die Glo­ba­li­sie­rung heu­te eine »Eu­ro­päi­sie­rung« ist – und das hat nicht in Wer­be­bro­schü­ren der EU ge­stan­den, son­dern im bri­ti­schen Ma­ga­zin »Eco­no­mist«, dem Pflicht­blatt li­be­ra­ler Ka­pi­ta­lis­ten.

Ei­nen Glo­bal Play­er wie das heu­ti­ge Eu­ro­pa hat es in die­ser Form in der Welt­ge­schich­te noch nicht ge­ge­ben. In­dem die EU Schritt für Schritt die An­ge­le­gen­hei­ten ih­res Bin­nen­markts re­gelt, for­mu­liert sie ne­ben­bei welt­weit wirk­sa­me Stan­dards. Egal, ob es um Che­mi­ka­li­en, Son­der­müll, Hor­mon­fleisch, Elek­tro­schrott, Ab­gas­nor­men, Tier­ver­su­che, Kar­tell­recht, Pri­vat­sphä­re, Pflan­zen­schutz, Wett­be­werb oder Luft­rein­hal­tung geht – die EU ist im­mer ir­gend­wie schon da.

Sie setzt – ge­stützt auf wis­sen­schaft­li­che Er­kennt­nis­se und aus­ge­stat­tet mit an­er­kann­ter sach­li­cher, ju­ris­ti­scher und auch mo­ra­li­scher Kom­pe­tenz – welt­weit Nor­men und Kri­te­ri­en, selbst dort, wo sie von Rechts we­gen ei­gent­lich nichts zu mel­den hät­te. Es ist des­halb nicht falsch zu sa­gen, dass die Eu­ro­päi­sche Uni­on die Welt je­den Tag ein biss­chen bes­ser macht, ein biss­chen sau­be­rer, ein biss­chen ge­sün­der, si­che­rer, nach­hal­ti­ger.

»EU-Ge­set­ze be­stim­men, wie in In­do­ne­si­en Holz ge­schla­gen wird, wie die Bra­si­lia­ner Ho­nig pro­du­zie­ren, wel­che Pes­ti­zi­de Ka­kao­bau­ern in Ka­me­run ein­set­zen und wel­ches Ge­rät in chi­ne­si­schen Milch­fa­bri­ken zum Ein­satz kommt«, schreibt Anu Brad­ford, eine aus Finn­land stam­men­de Ju­ra­pro­fes­so­rin an der New Yor­ker Co­lum­bia-Uni­ver­si­tät. Sie hat mit ih­ren Mit­ar­bei­tern in ei­ner gro­ßen Fleiß­ar­beit vie­le der hier zi­tier­ten Fak­ten ge­sam­melt. Das zu­ge­hö­ri­ge Buch, »The Brus­sels Ef­fect«, er­schie­nen An­fang 2020, trägt den Un­ter­ti­tel: »Wie die Eu­ro­päi­sche Uni­on die Welt re­giert«. Dem SPIEGEL sag­te Brad­ford auf die Fra­ge, ob das nicht doch eine zu stei­le The­se sei: »Kei­nes­wegs! Eu­ro­pa ist nur, im Ge­gen­satz zu tra­di­tio­nel­len Vor­stel­lun­gen, eine lei­se Welt­macht, und ge­nau dar­auf be­ruht ihr Er­folg.«

In ih­rem Buch ent­wi­ckelt sie auf 400 klein ge­druck­ten Sei­ten das Bild ei­ner EU, die mal di­rekt, mal in­di­rekt rund um den Erd­ball wirkt. Es ist ein Ef­fekt, der na­tür­lich auf der sim­plen Tat­sa­che be­ruht, dass Eu­ro­pa als Wirt­schafts­macht, Ab­satz­markt und Han­dels­part­ner so wich­tig ist, dass au­ßer­eu­ro­päi­sche Län­der und Fir­men kei­nes­falls von ihm ab­ge­schnit­ten sein wol­len. Hin­zu kommt aber, dass Un­ter­neh­men, be­son­ders die in­ter­na­tio­nal agie­ren­den, ent­ge­gen gän­gi­gen An­nah­men an ge­re­gel­ten Märk­ten sehr in­ter­es­siert sind. Kla­re Kri­te­ri­en für alle be­deu­ten Pla­nungs­si­cher­heit und fai­ren Wett­be­werb, und weil die EU meist nicht nur ir­gend­wel­che, son­dern meist die strengs­ten Re­geln setzt, ori­en­tie­ren sich der Ein­fach­heit hal­ber vie­le gleich an ihr.

Es gab im Ver­lauf der neue­ren Ge­schich­te im­mer füh­ren­de Mäch­te, de­ren Kom­pe­tenz und Leit­bil­dern die an­de­ren folg­ten. Die Bri­ten und Fran­zo­sen präg­ten das 18. und das 19. Jahr­hun­dert, die USA das 20. Jahr­hun­dert nach den Welt­krie­gen. Bis in die Acht­zi­ger­jah­re setz­ten die Ame­ri­ka­ner »Gold­stan­dards« für die Welt. Da­nach ver­lieb­ten sie sich aber der­art in die De­re­gu­lie­rung, dass sie dar­über die Rol­le des Re­gu­la­tors prak­tisch auf­ga­ben und schließ­lich ver­lo­ren. In die­se Lü­cke ist die EU ge­sto­ßen. Sie wird – was die Re­geln des Pro­du­zie­rens, Wirt­schaf­tens, Kon­su­mie­rens und Zu­sam­men­le­bens an­geht – die prä­gen­de Macht des 21. Jahr­hun­derts sein, ein ver­nünf­ti­ger He­ge­mon.

Sie pro­fi­tiert auch da­von, dass in die­sen Jah­ren The­men Kar­rie­re ma­chen, an de­nen in Eu­ro­pa be­reits seit vie­len Jah­ren ge­ar­bei­tet wird, das ver­stärkt den »Brüs­sel-Ef­fekt« un­ge­mein. Ge­ra­de der Da­ten­schutz war, schon lan­ge vor den Skan­da­len und Ha­cker­at­ta­cken un­se­rer Zeit, in Eu­ro­pa ein al­ter Hut. Nun rei­ßen sich vie­le um die eu­ro­päi­schen Er­fah­run­gen da­mit. Aber auch in Fra­gen der so­zia­len und öko­lo­gi­schen Nach­hal­tig­keit, die in an­de­ren Welt­re­gio­nen lan­ge kei­ne Kon­junk­tur hat­ten, hat Eu­ro­pa Kom­pe­tenz auf­ge­baut, die sich an­ders­wo nicht auf die Schnel­le nach­ho­len lässt. Die EU wird also ko­piert, und ihre Kon­zep­te be­glei­ten gan­ze Län­der, die sich auf dem Weg in die Wohl­stands­ge­sell­schaft be­fin­den.

»Die EU«, sagt Anu Brad­ford, »leis­tet mit gro­ßer Ex­per­ti­se auf vie­len Fel­dern die har­te Ar­beit der Ge­setz­ge­bung und wird als Au­to­ri­tät in vie­len Fra­gen an­er­kannt.« Dass die Tex­te auch im­mer gleich in ei­ni­gen der gro­ßen Welt­spra­chen vor­lie­gen, scha­det nicht. Und so macht die Uni­on welt­weit Schu­le, als Vor­bild, als Takt­ge­be­rin, als Pro­blem­lö­se­rin, als Schlich­te­rin.

Der Vor­wurf, wie zu­letzt Do­nald Trump ihn for­mu­liert hat, dies al­les ge­sche­he doch nur aus dem eu­ro­päi­schen In­ter­es­se, sich selbst vor Wett­be­werb zu schüt­zen, wirkt plau­si­bel, lässt sich aber nur schwer er­här­ten. Brad­ford wid­met dem ein gan­zes Ka­pi­tel ih­res Bu­ches und kommt zu dem Schluss, dass die EU kei­ne pro­tek­tio­nis­ti­schen Zie­le ver­fol­ge. Sie stellt ihre Re­geln ja auch gar nicht für an­de­re auf, son­dern nur für ih­ren ei­ge­nen Markt. Es kann ei­nem so vor­kom­men, als wäre Eu­ro­pa die smar­tes­te Welt­macht ge­wor­den, die es je gab.

Die Un­ter­schei­dung zwi­schen »wei­cher« und »har­ter« Macht, soft und hard power, stammt von Jo­seph Nye, dem er­wähn­ten Har­vard-Pro­fes­sor. Nye ist Jahr­gang 1937 und also längst im Ru­he­stand, aber er forscht und ver­öf­fent­licht den­noch wei­ter. Erst vor ein paar Wo­chen hat er in ei­ner Fach­zeit­schrift wie­der zu­ge­langt und in kur­zen Stri­chen sein Den­ken skiz­ziert. Nye ist über­zeugt da­von, dass es ohne hard power nicht geht, aber, schreibt er, »mi­li­tä­ri­sche Macht ist ein stump­fes In­stru­ment«. Für heu­ti­ge Mäch­te gehe es dar­um, soft und hard zu »smart« zu ver­bin­den.

Ra­ke­ten und Kriegs­schif­fe, meint Nye, hel­fen we­der bei der Be­kämp­fung der Erd­er­wär­mung noch beim Schutz der Pri­vat­sphä­re oder bei der Ban­ken­auf­sicht. Sie blie­ben aber, schreibt Nye dem SPIEGEL auf Fra­gen per E-Mail, »not­wen­di­ge, wenn auch nicht hin­rei­chen­de Mit­tel zur Ver­tei­di­gung der li­be­ra­len De­mo­kra­ti­en«. Hier hat die EU De­fi­zi­te, die we­ni­ger die Ka­pa­zi­tä­ten als viel­mehr die Ko­or­di­na­ti­on zwi­schen ih­ren Mit­glie­dern be­tref­fen und de­ren Wil­len, die Si­cher­heits­po­li­tik vom Na­tio­nal­staat zu ent­kop­peln.

Wenn man die Mi­li­tär­aus­ga­ben von 2019 zu­grun­de legt und das in­zwi­schen aus­ge­tre­te­ne Groß­bri­tan­ni­en be­reits igno­riert, ste­hen die Län­der der EU ge­mein­sam für rund 12 Pro­zent der welt­wei­ten Mi­li­tär­aus­ga­ben. Sie lie­gen da­mit weit hin­ter den USA, de­ren An­teil bei rund 39 Pro­zent liegt, aber vor Chi­na mit 10 und deut­lich vor Russ­land mit 3,5 Pro­zent. Die­se Zah­len mö­gen sich zu­guns­ten Chi­nas ver­schie­ben, aber sie zei­gen doch, dass Eu­ro­pa, häu­fig als au­ßen- und si­cher­heits­po­li­tisch im­po­tent ver­spot­tet, in mi­li­tä­ri­scher Hin­sicht ei­gent­lich auf Au­gen­hö­he mit den gro­ßen Mäch­ten un­ter­wegs wäre, wenn es ihm denn ge­län­ge, die na­tio­nal zer­split­ter­te »har­te« Macht zu ei­ner eu­ro­päi­schen zu ver­ei­nen.

War­um dies dring­lich ist, lässt sich leicht be­ant­wor­ten. Wer in Fra­gen von Krieg und Frie­den mit­re­den will, wem es um Men­schen­rech­te geht, braucht nicht nur Wer­te und Ar­gu­men­te, son­dern auch mi­li­tä­ri­sches Ge­wicht. Das Glei­che gilt für die ei­ge­ne Si­cher­heit. Der Münch­ner His­to­ri­ker An­dre­as Wir­sching sagt, Eu­ro­pa habe po­ten­zi­ell ein hand­fes­tes Si­cher­heits­pro­blem. »Die Fra­ge lau­tet«, sagt Wir­sching, »was wäre los, wenn et­was los wäre?« Die EU sei ge­wiss »eine Macht von welt­wei­ter Be­deu­tung und Strahl­kraft«, aber sie kön­ne in sie ge­setz­te Hoff­nun­gen häu­fig nicht er­fül­len. »In der Ukrai­ne zum Bei­spiel«, sagt Wir­sching, »da er­reicht man mit soft power dann nicht mehr viel.«

Oder, in den dras­ti­sche­ren Wor­ten Jo­seph Nyes: Wer glau­be, dass hard power heu­te il­le­gi­tim oder ir­re­le­vant sei, »soll­te das ein­mal Ukrai­nern oder Ge­or­gi­ern er­zäh­len, die ge­gen Pu­tin kämp­fen, oder den Je­si­den, an de­nen der ›Is­la­mi­sche Staat‹ ei­nen Ge­no­zid ver­üben woll­te«.

Ge­fah­ren lau­ern über­all. Die Bun­des­re­gie­rung ist der­zeit be­son­ders be­un­ru­higt über Chi­nas Ver­su­che, das Ge­bäu­de der eu­ro­päi­schen Nor­men und Stan­dards zu er­schüt­tern und die Uni­on auf­zu­wei­chen. Es ist be­reits mehr­fach vor­ge­kom­men, dass ein­zel­ne EU-Län­der im­mer dann aus der ge­mein­sa­men Li­nie aus­scher­ten, wenn es dar­um ging, Chi­na zu kri­ti­sie­ren oder we­gen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an­zu­ge­hen. Un­garn und Grie­chen­land, Kroa­ti­en, Slo­we­ni­en, Tsche­chi­en pfle­gen eine teil­wei­se be­denk­li­che Nähe zur Macht in Pe­king. Ge­fähr­li­che neue Bruch­li­ni­en könn­ten sich hier auf­tun. Und Brü­che schwä­chen die Eu­ro­päi­sche Uni­on.

Wie hart sie als Macht wer­den will, wer­den muss, wer­den kann, ist of­fen. Die­ser schlich­te Be­fund al­lein ist nicht gut. Im Mo­ment möch­te sich nie­mand aus­ma­len, mit den Wor­ten des His­to­ri­kers Wir­sching, was los wäre, wenn ir­gend­wo an ei­ner Au­ßen­gren­ze der EU et­was los wäre, also ein Krieg aus­brä­che, am Schwar­zen Meer oder im Bal­ti­kum, im Mit­tel­meer. Das ist für eine Welt­macht auf Dau­er kein Zu­stand.

Der ak­tu­el­le Hohe Ver­tre­ter der EU für aus­wär­ti­ge An­ge­le­gen­hei­ten, der Spa­ni­er Jo­sep Bor­rell, hat die heu­ti­ge EU-Au­ßen­po­li­tik mit der Zeit der Ein­füh­rung des Euro ver­gli­chen, in der an­fangs die al­ten na­tio­na­len Wäh­run­gen und das neue Geld ne­ben­ein­an­der im Um­lauf wa­ren. Für den Mo­ment, sag­te Bor­rell der »Frank­fur­ter All­ge­mei­nen« kurz vor sei­nem Amts­an­tritt vor gut ei­nem Jahr, müs­se auch die EU-Au­ßen­po­li­tik mit den na­tio­na­len Au­ßen­po­li­ti­ken ko­exis­tie­ren. Es gehe dar­um, dass die Schnitt­men­gen mit der Zeit im­mer grö­ßer wür­den.

Zeit spielt in kom­ple­xen Bünd­nis­sen wie der EU eine gro­ße Rol­le. Wer die Un­fä­hig­keit der 27 Staa­ten zu ei­ner schlüs­si­gen Au­ßen- und Si­cher­heits­po­li­tik be­klagt, ver­gisst häu­fig, dass die Uni­on nach his­to­ri­schen Be­grif­fen ein sehr jun­ges Ge­bil­de ist. 16 der heu­te 27 Mit­glied­staa­ten sind erst in der Zeit seit 1995 bei­ge­tre­ten, 13 da­von ka­men erst seit 2004 hin­zu. Im Er­geb­nis müs­sen nun die In­ter­es­sen der In­sel Mal­ta mit je­nen der Atom­macht Frank­reich ver­söhnt wer­den, die An­lie­gen der bal­ti­schen Staa­ten mit de­nen Zy­perns, und Schwe­den soll sich für die si­cher­heits­po­li­ti­schen Sor­gen Bul­ga­ri­ens in­ter­es­sie­ren und um­ge­kehrt.

Es ist, nach min­des­tens zwei Jahr­hun­der­ten des ein­ge­fleisch­ten na­tio­na­len Den­kens, wirk­lich kei­ne leich­te Übung.

Kann sie ge­lin­gen? Es ist die größ­te Bau­stel­le bei der Fort­ent­wick­lung der EU. Im Aus­wär­ti­gen Amt am Wer­der­schen Markt in Ber­lin ist man pro­fes­sio­nell zu­ver­sicht­lich. Die Ei­ni­gung der EU-Staa­ten aus dem ver­gan­ge­nen Som­mer, für ein Co­ro­na-Hilfs­pro­gramm ge­mein­sam Schul­den auf­zu­neh­men und viel Geld als Zu­schuss und nicht als Kre­dit zu ge­wäh­ren, sei ein Durch­bruch ge­we­sen, heißt es, ein »his­to­ri­scher Sprung nach vorn«.

Aber wie das so geht in den Macht­zir­keln Eu­ro­pas, wur­de aus dem schö­nen Sprung ein häss­li­ches Ge­wür­ge. Die Blo­cka­de Un­garns und Po­lens brach­te bis kurz vor Weih­nach­ten 2020 eine neue schwe­re Kri­se. Neu­er­lich wur­den die Bruch­stel­len des EU-Be­triebs sicht­bar, der im­mer dann be­son­ders hilf­los wirkt, wenn Re­gie­run­gen ein­zel­ner Mit­glied­staa­ten ihre Va­ri­an­ten des Trum­pis­mus auf­füh­ren. Aber im­mer dann zeigt sich auch die Resi­li­enz der Uni­on. Sie schwankt oft, aber sie sinkt nicht.

Ihr Weg durch die jüngs­te Ge­schich­te gleicht ei­ner »Ach­ter­bahn«, so heißt auch das Buch des His­to­ri­kers Ian Kers­haw zum The­ma. Und so wird es wei­ter­ge­hen, als Groß­bau­stel­le, auf der das Durch­wursch­teln manch­mal kei­ne Schwä­che, son­dern eine gute Idee ist.

Der eins­ti­ge US-Bot­schaf­ter Ri­chard Morningstar, in den Jah­ren um die Jahr­tau­send­wen­de Ame­ri­kas Chef­di­plo­mat in Brüs­sel, be­schreibt es auf amü­san­te Wei­se: »Die Eu­ro­päi­sche Uni­on macht gern zwei Schrit­te vor­wärts und dann an­dert­halb zu­rück«, sagt Morningstar, »aber das ist auch Fort­schritt.«

Vor gut 20 Jah­ren zo­gen deut­sche und an­de­re Pro­fes­so­ren um die Häu­ser, um vor dem Euro und sei­nen ent­setz­li­chen Fol­gen für un­ser al­ler Wohl­stand zu war­nen. Dar­auf käme heu­te, da der Euro die be­ton­har­te Zweit­wäh­rung der Welt ist, kaum ei­ner mehr.

Auch die ewi­ge Furcht vor ei­nem Brüs­se­ler Kra­ken, der alle De­mo­kra­tie aus den Mit­glieds­län­dern ab­saugt, hat sich nicht be­stä­tigt. Eben­so we­nig hat sich der Zer­fall der Uni­on er­eig­net, aus wech­seln­den An­läs­sen im­mer wie­der vor­her­ge­sagt.

Der Feh­ler ist, Mo­ment­auf­nah­men für ei­nen Ge­samt­ein­druck zu hal­ten. Ja, dar­an kön­nen auch die Me­di­en schuld sein, aber es be­trifft auch tie­fer lie­gen­de Struk­tu­ren mensch­li­chen Den­kens.

Der Eu­ro­pä­er Hans Ros­ling, ein Schwe­de, hat sich zu sei­nen Leb­zei­ten dar­um be­müht, als Arzt Men­schen zu hel­fen und als For­scher die all­ge­mei­ne Blind­heit für das lang­sam Wach­sen­de und un­auf­fäl­lig Fort­schrei­ten­de zu hei­len. Der Un­ter­ti­tel sei­nes be­mer­kens­wer­ten Bu­ches »Fact­ful­ness« lau­tet: »Wie wir ler­nen, die Welt so zu se­hen, wie sie wirk­lich ist«. Sie ist laut Ros­ling vor al­lem viel ge­sün­der, viel wohl­ha­ben­der, viel fort­ge­schrit­te­ner und viel bes­ser, als die meis­ten Men­schen den­ken.

Es ging Ros­ling nicht um Schön­fär­be­rei oder um die be­que­me Be­haup­tung, al­les sei nur halb so schlimm – das wuss­te er, der in ar­men Ge­gen­den Afri­kas und Asi­ens ge­ar­bei­tet hat­te, bes­ser. Er woll­te aber doch die fro­he Bot­schaft un­ter die Leu­te brin­gen, dass der Fort­schritt zwar eine Schne­cke ist, aber trotz­dem statt­fin­det, und dass es eben nicht ver­ge­bens ist, sich um ihn zu be­mü­hen. Man könn­te sei­ne Hal­tung in den Satz fas­sen: Wer im­mer nur die Hän­de ringt, hat kei­ne Hand frei, um die Ärmel auf­zu­krem­peln. Ros­ling macht Mut.

Sei­ne Art zu den­ken wür­de auch mit Blick auf die EU gut­tun. Man könn­te sich dann als Eu­ro­pä­er ab und zu ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass der Bund der eu­ro­päi­schen Staa­ten für Hun­der­te Mil­lio­nen Men­schen eine Ma­schi­ne für Frie­den und Wohl­stand und Le­bens­chan­cen war und ist. Man könn­te für ei­nen Mo­ment lang stolz sein auf das Er­reich­te, auf eine er­staun­li­che Er­folgs­ge­schich­te. Dar­auf, dass im Lau­fe der Jahr­zehn­te dank eu­ro­päi­scher in­itia­ti­ven wirk­lich vie­les bes­ser wur­de für vie­le Men­schen.

Aber die Eu­ro­päi­sche Uni­on wird von den Zeit­ge­nos­sen – dar­in den Ver­ein­ten Na­tio­nen ähn­lich – oft nur auf ihre Män­gel ab­ge­klopft. Auch wird die EU gern al­lein an ih­rer Fä­hig­keit zu schnel­lem Han­deln ge­mes­sen und zu sel­ten nach der Leis­tung, mit Ruhe und Be­harr­lich­keit Schritt für Schritt ein Ziel zu ver­fol­gen. Und na­tür­lich wird häu­fig ver­ges­sen, dass die EU ein Bund von 27 Staa­ten ist. Sind sie sich ei­nig, ist Eu­ro­pa stark. Sind sie un­eins, dann hilft auch die bes­te EU nicht viel.

Die Eu­ro­päi­sche Uni­on wird auf Dau­er – und mit Dau­er sind Jah­re und Jahr­zehn­te ge­meint – dar­an ge­mes­sen wer­den, ob sie ihre Zie­le er­reicht, und sie nimmt sich ja im­mer nur Gro­ßes vor. Frie­den be­wah­ren, Welt­kli­ma ret­ten, Na­tur­zer­stö­rung be­en­den, Men­schen schüt­zen, Wohl­stand meh­ren, Le­ben ver­bes­sern, Glück su­chen.

Die meis­ten Eu­ro­pä­er fin­den die­se Zie­le so selbst­ver­ständ­lich, dass sie die schö­nen Wor­te kaum mehr hö­ren und al­les drum her­um gern als Sonn­tags­re­den ab­tun. So ge­ra­ten sie in Ge­fahr, nicht mehr zu se­hen, was der Rest der Welt spie­lend er­kennt: dass es ge­lun­gen ist, ei­nen gan­zen Kon­ti­nent, auf dem sich die Men­schen jahr­hun­der­te­lang zer­fleisch­ten, zu ei­nem Mo­dell für das 21. Jahr­hun­dert zu ma­chen.

Viel mehr Welt­macht geht nicht.




Cantona
Sehr guter Artikel @gibts des.

Geht mir seit Jahren auf den Sack, dass man diese Fakten dem ein oder andere Anti-EU-Schwadronierer nicht entgegenhält. Der Brexit so mit das Dümmste, was die letzten Jahren auf dem europäischen Kontinent passiert ist.

Goofy
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Grasdaggl
Tifferette hat geschrieben:Übrigens - Maaßen wollte wohl tatsächlich die AfD gegen den Verfassungsschutz vertreten.

Boah.

“wollte wohl“ ...

Ich lese im Internet nur, dass er die Kanzlei, die das tun soll, deshalb verlässt.

Das Thema interessiert mich aber kaum.




flux
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Granadaseggl
Cantona hat geschrieben:Sehr guter Artikel @gibts des.

Geht mir seit Jahren auf den Sack, dass man diese Fakten dem ein oder andere Anti-EU-Schwadronierer nicht entgegenhält. Der Brexit so mit das Dümmste, was die letzten Jahren auf dem europäischen Kontinent passiert ist.


Der Brexit ist ja nicht gerade nicht auf dem Kontinent passiert. Ansonsten stimme ich zu: Ein schöner Text über meine Lieblings-EU.
Robert Schlienz ist unser Held, war der beste Mann der Welt!


Flache9
Goofy hat geschrieben:... das kann schon sein.
Aber allein aus seiner Gesinnung kann man ja nicht ableiten, dass er die AfD vertreten wollte.


Ich finde schon. Er wurde doch schon mehrmals mit der AfD in Verbindung gebracht oder ?

Flache9
Goofy hat geschrieben:
Tifferette hat geschrieben:Übrigens - Maaßen wollte wohl tatsächlich die AfD gegen den Verfassungsschutz vertreten.

Boah.

“wollte wohl“ ...

Ich lese im Internet nur, dass er die Kanzlei, die das tun soll, deshalb verlässt.

Das Thema interessiert mich aber kaum.


Soweit ich lesen konnte hat er die Kanzlei verlassen oder musste sie verlassen, weil er als Zeuge in dem Verfahren auftreten könnte.

Nilkheimer
Halbdaggl
Flache9 hat geschrieben:
Goofy hat geschrieben:... das kann schon sein.
Aber allein aus seiner Gesinnung kann man ja nicht ableiten, dass er die AfD vertreten wollte.


Ich finde schon. Er wurde doch schon mehrmals mit der AfD in Verbindung gebracht oder ?


Ja daaaaannnn...
Aber das macht doch nichts.

Gibts des
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Halbdaggl
Halle, Hanau, die Ermordung Lübkes... ...“der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ :!: :puke:
Zum Auschwitz-Gedenktag
Gibt’s des:
https://nie-wieder-2020.de/
... auch wenn es manch selbstreferenziellem Foristen wichtiger zu sein scheint, angeblichem Mobbing hier auf die Spur zu kommen :roll: :oops:

muffinho
Flache9 hat geschrieben:Maaßen Gesinnung sollte jedem bekannt sein.


Ich glaube Du brauchst nach Deinem Rosenverkäufer-Spruch nicht mehr über die politische Gesinnung von besorgten Bürgern spekulieren, coolman!

higgi
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Grasdaggl
Wundert mich dass der unsouveräne Auftritt unseres Landesvaters gestern bei Lanz hier noch nicht thematisiert wurde.
Das war zum fremdschämen.
von daher






Flache9
higgi hat geschrieben:Lanzs Fragen waren berechtigt, sonst nix


Kretschmann hat es mehrmals wiederholt und Lanz hat immer wieder die gleiche schieße gelabert und es immer wieder Falsch wiedergegeben. Kretschmann hatte recht.