vivafernanda hat geschrieben:Well. Ich habe nicht nachgerechnet wieviel Zeit die Bahn mir schuldet, aber auf meinen Wegen zwischen M und S ist die Verspätung mittlerweile Alltag.
Was dir die Bahn schuldet? Woran die Bahn also schuld sei? Ich glaube, dass die Bahn die falsche Adresse für Beschwerden ist. Die Verkehrspolitik in unserem Land, parteiübergreifend, im Bund, wie in den Ländern, hat den heutigen Zustand der Bahn bewusst und willentlich herbeigeführt. Die Bahn wurde privatisiert, elementare Funktionsbereiche outgesourced, der Güterverkehr zugunsten des LKW-Verkehrs massiv zurückgeschnitten und große Teile der Güterverkehrsstrecken, samt Logistik, Abstellhöfen und Rangierstrecken aufgelöst und überbaut. Der Personenverkehr hat ebenfalls 20% seiner Schienen verloren und wurde zudem jahrelang nicht mehr gewartet, weil man das für wirtschaftlich intelligent hielt. Heute müssen sich Güterverkehr und Personenverkehr marode Strecken teilen. Das Ergebnis ist eine nicht mehr voll funktionsfähige Bahn, bei der aktuell 50% der Fernzüge Verspätung ausweisen.
Ist also die Politik schuld? Nein, auch nicht. Die Bürger dieses Landes sind schuld, wenn man schon jemanden haftbar machen will. Die Bürger dieses Landes haben über mehrere Dekaden hinweg den Individualverkehr bevorzugt und eine Politik gewählt, die privatisierte und Outsourcing betrieb. Bürger, die bis heute weit mehrheitlich ihre individualistischen und persönlichen Interessen jederzeit und an jedem Ort über das Allgemeinwohl stellen und dies für den fortschrittlichsten aller möglichen Arten von Zeitgeist halten.
Wer sich jetzt also ernsthaft hinstellt und glaubt, er könne mit dem Finger auf „die Bahn“ zeigen, sollte sich mal die anderen 4 Finger seiner Hand anschauen, wo die gerade hinzeigen.
Ich schreibe das übrigens nicht vornehmlich wegen des Themas Bahn. Mich ärgert diese Grundhaltung viele Mitbürger immer mehr. Unser Staatwesen funktioniert in Teilen nicht gut, die Probleme werden benannt und beschrieben. Wir alle kennen diese Probleme zur genüge, es herrscht kein Mangel an Information oder Aufklärung. Die Probleme sind zwar zum Teil tatsächlich erheblich, aber durchaus lösbar, bzw. technisch beherrschbar. Doch statt konkret Lösungen anzugehen, haben wir weitgehend eine Kultur entwickelt, die sich damit begnügt mit dem Finger auf andere zu zeigen. Wenn es nicht ein wenig weit hergeholt wäre, könnte man auch sagen, Deutschland verwandelt sich immer mehr von einer konstruktiven Gesellschaft in eine rein destruktive. Statt sich gemeinsam verantwortlich zu fühlen, sucht man die Schuld bei Anderen. Andere sind dann wahlweise mal Institutionen, das andere politische Lager, die Boomer, die Männer, die Binären tbc. Im Grunde wissen wir genau, dass diese Art von Fehlerkultur genau dazu führt, was wir nun weltweit in den westlichen Gesellschaften beobachten müssen: die Spaltung.
Die Frage ist also ganz konkret: überwinden wir diese Kultur? Hören wir auf mit dem Finger auf andere zu zeigen und beginnen damit unseren eigenen Teil der Verantwortung an dieser Gesellschaft wahrzunehmen? Oder begnügen wir uns weiterhin wohlfeil damit immer auf die Anderen zu zeigen, weil wir im tiefsten Grunde unseres Herzens einfach nur hoffen, die Wellen der Sintflut, so unweigerlich wir nun selbst begriffen haben, dass sie kommen werden, mögen erst bitte nach uns anschlagen?
Natürlich ist mir bewußt, dass meine Antwort für dich zumindest in so weit eine Zumutung darstellt, dass sie weit darüber hinaus geht, was du mit deinem Posting eigentlich beabsichtigt haben wirst. Ich finde aber, du verdienst die Antwort trotzdem.