Keine Woche ohne penetrantes Selbstlob. Hervorragend, wie Deutschland bisher durch die Pandemie gekommen ist. Gut, es gab ein paar Stolperer bei der Maskenbeschaffung und der Impfstoffbestellung. Aber davon abgesehen: Kompliment. Es war zwar manchmal knapp, aber die Intensivstationen sind dann doch nie ausgelastet gewesen. Hie und da waren Überlandtransporte von Schwerkranken über Hunderte Kilometer nötig, aber auch das wurde gemeistert. Wem hat das Land dies alles zu verdanken? Der vorausschauenden Politik natürlich, aber besonders diesem ausgezeichneten Gesundheitswesen, das weltweit seinesgleichen sucht. Ein Hoch auf die Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte.
Komisch nur, dass diesem Vorzeigesystem seit Jahren das Personal davonläuft. Das muss dann wohl an der Pandemie liegen. Erschöpft und ausgelaugt davon, mit Maske, Visier und Vollverkleidung beatmete Corona-Patienten umlagern zu müssen, um zwischendurch von schwer kranken Impfgegnern angemault zu werden, denen man gerade das Leben rettet - das zermürbt natürlich. Das kann schon mal zum Jobwechsel motivieren. Aber sonst? Alles prima zwischen Infusionsständer und Bettpfanne.
Die Wahrheit: Das deutsche Gesundheitswesen ist vollkommen heruntergewirtschaftet. Ein elementarer Kernbereich der Daseinsfürsorge ist verkommen zu einem Industriezweig, übrigens dem umsatzstärksten im Land neben der Automobilindustrie. Die Krankenversorgung, zu der neben dem spröden Wort "Pflege" auch Nächstenliebe und etwas so Altmodisches wie Barmherzigkeit gehören, wird von Controller-Regimentern angeführt, Profitmaximierung ist nicht nur gewünscht, sondern sie wird kalt eingefordert. Kliniken müssen Gewinne erwirtschaften; arbeiten Abteilungen unrentabel, weil sie zum Beispiel zu viele unnötige Operationen doch nicht durchführen, werden sie erst zusammengespart, dann geschlossen. Sollen sich die Kranken woanders auskurieren, wenn sie nicht lukrativ genug leiden.
Hat jemand schon mal davon gehört, dass die Feuerwehr oder die Polizei nach ihren Ausgaben bewertet werden? Dass ihre Stellen danach bemessen sind, ob sie Gewinne machen? Ein Krankenhaus ist keine Schraubenfabrik. Doch kommunale und konfessionelle Krankenhäuser werden seit Jahren meistbietend im Ausverkauf angeboten und an private Träger verschachert, die größtenteils börsennotiert sind oder in Fonds und anderen Gelddepots stabile Erlöse garantieren. Mittlerweile sind fast 40 Prozent aller deutschen Klinikbetten in privater Hand. Weltweit ein Spitzenwert, Deutschland hat die USA in dieser Hinsicht längst überholt.
Mit der Privatisierung findet eine gigantische Umverteilung von Geld aus dem Solidarsystem statt, das zur Vermehrung des Shareholder Value dient. Die Beiträge aus der gesetzlichen Krankenversicherung werden dazu benutzt, damit Klinikkonzerne reicher werden und Aktionäre profitieren. Die Kosten werden sozialisiert, der Gewinn privatisiert. Nicht schlimm, dass es ein paar Krankheitsgewinnler gibt? Von wegen, denn die Patienten leiden unter den systematischen Fehlanreizen, werden falsch oder unnütz oder gar nicht behandelt. Und das Personal sucht das Weite. Das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass etliche Pflegekräfte in der Klinik gekündigt haben und in Umfragen regelmäßig mehr als die Hälfte der Ärzte angeben, dass sie ihren Kindern nicht mehr zum Arztberuf raten würden. Diese Menschen wollen gute Medizin machen, was aber mit den Einsparungen an Personal, Material und einer zeitlich immer engeren Taktung kaum noch möglich ist.
Dass Patienten trotzdem oftmals gut behandelt werden, liegt vor allem an der Selbstausbeutung vieler Ärztinnen und Ärzte (darunter besonders vieler Hausärzte) sowie des Pflegepersonals. Sie machen trotz mieser Bedingungen weiter, haben ihren Idealismus noch nicht gegen zynische Resignation eingetauscht und halten durch bis zum Burn-out oder Stellenwechsel. Die Aufopferungsbereitschaft der Helfer ist im knappen Budget der Kliniken selbstverständlich eingepreist.
Dass ein Krankenhaus auf seine Finanzen achten muss, ist logisch. Wenn ökonomische Richtwerte darüber bestimmen, wie, womit und wie lange welcher Patient behandelt werden sollte, ist jedoch keine gute Medizin mehr möglich. Pflegekräfte wie Ärzte machen sich dann davon. Beispiel Fallpauschalen. Pro Diagnose bekommt das Krankenhaus eine bestimmte Summe erstattet - und manche Krankheiten sind für die Klinik nun mal lukrativer als andere. Die Medizin mit dem Preisschild führt zu einseitigen Schwerpunkten in vielen Krankenhäusern. Patienten mit weniger gewinnbringenden Krankheiten werden vernachlässigt, entsprechende Abteilungen oft gar nicht mehr angeboten.
Häufig kommt es vor, dass die Pauschale aus wirtschaftlicher Sicht zu gering ausfällt. Dann werden zusätzliche Diagnosen erfunden, ergänzt und vor allem "codiert", denn nur so sind sie für die Abrechnung relevant. Die Kranken werden kränker gemacht, als sie sind. Wenn das nicht reicht, werden Patienten "blutig entlassen", also mit pflegeintensiven Wunden oder noch so geschwächt, dass sie kein Hausarzt und erst recht kein Angehöriger zu Hause versorgen kann. Eine andere Variante ist die "Drehtürmedizin". Ein Eingriff, der problemlos während eines stationären Aufenthalts vorgenommen werden könnte, wird auf zwei Klinikaufenthalte aufgeteilt. Lässt sich dann auch zweimal abrechnen.
Oft beißt sich die betriebswirtschaftliche Logik mit dem ärztlichen und pflegerischen Ethos. Pflegekräfte wie Assistenzärzte lernen, dass sie einen bestimmten Erlös erwirtschaften sollten, um ihre eigene Stelle zu rechtfertigen. Kaum einer sagt es so direkt, aber es muss eine bestimmte Anzahl an Fallpauschalen-Punkten erreicht werden, um den Stellenschlüssel zu retten.
Weiteres Beispiel: Sonderzahlungen, früher hieß das Boni. Wenn der Chefarzt für Masse und nicht für Klasse bezahlt wird, tut das den Patienten nicht gut. Ab 50 Operationen, Katheter-Untersuchungen oder anderen Interventionen winkt zum Jahresende eine stattliche fünfstellige Summe? Da kann die Entscheidung für oder gegen einen Eingriff Ende November schon mal einseitig positiv ausfallen. Statt der medizinischen überwiegt die monetäre Indikation. Das Krankenhaus wird zum Warenhaus. Was sich lohnt, wird gemacht. Was wenig einbringt, wird abgelehnt.
Wenn Monetik statt Ethik dominiert und statt des Patientenwohls die Bilanz im Vordergrund steht, geraten viele Ärzte und Pflegekräfte erst ins Grübeln, verabschieden sich dann in die innere Emigration und kommen schließlich in anderen Jobs unter. Die Krankenhäuser verlieren oft die Idealisten, die Aufopferungsbereiten, manchmal muss man sagen: die Guten.
Fehlanreize wirken subtil, der Druck der Kaufmännischen Direktoren, Controller und BWLer in den Krankenhausdirektionen ist hingegen konkret: Rote Zahlen bedeuten weniger Assistenzarztstellen und ein geringeres Budget. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Hinzu kommt ein relativer Personalmangel - und der ist hausgemacht. In deutscher Gründlichkeit werden Krankenhäuser mittlerweile bis zum letzten Seifenspender nach Iso-Norm und DIN zertifiziert und qualitätsgesichert. Bürokratisch zwanghaft geht es zu.
Dafür sind zahlreiche neue Jobs entstanden, die meist mit ehemaligen Pflegekräften besetzt wurden: Hygienefachkräfte, die den ganzen Tag nur Bronchoskope reinigen. Codierfachkräfte, die Diagnosen verschlüsseln und vermehren, auf dass sich die Kranken besser abrechnen lassen. Qualitätssicherer und Pflegedienstleitung nicht zu vergessen. Im Einzelnen mag das sinnvoll sein. In der Zusammenschau entsteht ein bürokratischer Überbau mit absurden Dokumentationspflichten und ein Krankenhaus, dem Menschen fehlen, die andere Menschen pflegen, trösten und ihnen in schweren Stunden beistehen. Dafür hängen im Eingangsbereich die eingerahmten Urkunden mit Qualitätsstempel und Prüfplakette.
Atul Gawande ist Harvard-Chirurg und Medizinkritiker - so etwas gibt es - und hat gezeigt, wohin ein solches System führen kann. Er vergleicht das Gesundheitswesen mit einem Hausbau, bei dem "der Elektriker für jede Steckdose, die er empfiehlt, der Klempner für jeden Wasserhahn und der Tischler für jeden Schrank" bezahlt werden. Es wäre keine Überraschung, so Gawande, wenn das Haus 1000 Steckdosen, Wasserhähne und Schränke enthalten würde, die den dreifachen Preis kosten. Leider würde das Haus nach kurzer Zeit zusammenkrachen, obwohl der Elektriker auf der lächerlichen Focus-Bestenliste stand und der Klempner in einer Münchner Eliteuni ausgebildet ist. Mitarbeiter würden beide keine mehr finden.
Da kann man nix kürzen. Ich bin schließlich kein Controller.
Mit fehlen natürlich die genaueren Einblicke, ob der Autor richtig liegt. (FnF - zum Bsp. - kann das sicher besser einschätzen.) Aber erstens ist das nix Neues, zweitens kann man diesen Missstand nicht oft genug wütend anklagen.
Kauft halt ab und an mal die Print-SZ oder einen Online-Artikel bzw. Tagespass, damit die weiter ihre guten Schreiber bezahlen können. Nochmal die Quelle: