@Redrum
redrum hat geschrieben:@frankfurter: In meinen Augen liegst du nicht ganz richtig. Dass Sprache unser Denken beeinflusst, ist keine Idee des Poststrukturalismus.
Ja, natürlich! Der Poststrukturalismus ging jedoch darüber hinaus. Er ging auch noch über die von Dir genannte Sapir-Whorf-Hypothese hinaus. Er behauptet nämlich nicht nur, dass das Sprechen das Denken beeinflusst und formt (SPH), sondern er sagt, Sprache
definiert die
Realität! Das ist ein enormer Unterschied!
Die Poststrukturalisten begründen das etwa wie folgt:
1. niemand von uns wird jemals den Boden seiner Subjektivität verlassen können, weil wir alle im Gefängnis unserer Schädelknochen gefangen bleiben und niemand von uns auch nur je ahnen wird, wie ein anderer Mensch die Farbe Blau wirklich sieht oder den Geruch von Koriander empfindet oder wie sich Liebe für ihn anfühlt.
2. Und es zudem kein Verfahren gibt, um durch eine Kumulation von Subjektivität einzelner Individuen zu einer höheren Art der Subjektivität oder gar zur Objektivität zu gelangen.
Diese beiden, tatsächlich ja gar nicht so uninteressanten Argumentations-Schritte, haben in dieser Radikalität erstmals die Poststrukturalisten vollzogen (also: das Sprechen erschafft erst die Realität). Es geht hier also gar nicht mehr primär um den gegenseitigen Einfluss von Sprechen und Denken, sondern um eine Theorie der Wahrheit (siehe auch mein Wikipedia-Link dazu).
Unter der heutigen Generation von Feministinnen haben einige (die, die man dann auch immer als die führenden Köpfe in den Medien vorstellt) den Poststrukturalismus wieder für sich entdeckt und nutzen diesen nun als Hauptwerkzeug ihrer Argumentation gegen Diskriminierung und Rassismus. Die rhetorische Ableitung ist ja tatsächlich auch sehr naheliegend: weil die Sprache die Realität erst erschaffen würde, konstituiere sich auch aus der Sprache jede Art von gesellschaftlicher Realität, inklusive Macht und Machausübung. Ergo müsse man überall nur die Sprache ändern, um Machtverhältnisse zu ändern und eine diskriminierungsfreie Gesellschaften zu entwickeln. Das ist ja der Kern dieser teilweise doch sehr linguistisch gedachten politischen Korrektheit.
Meine Ausflüge in die Anthropologie waren dazu gedacht, andere Kausalitäten zu benennen, die auf biologische Weise wirken und nicht so einfach über Sprachgebrauch reguliert werden können.
redrum hat geschrieben:Es gibt hunderte vielleicht sogar tausende Untersuchungen darüber, wie Sprache Bilder in uns erzeugt. Und das nicht erst seit den sechziger Jahren.
Jou. Hier haben wir keinerlei Dissens, wie gesagt.
redrum hat geschrieben:Du schreibst es selbst, auch die Neurowissenschaft hat festgestellt, dass Sprache unser Denken beeinflusst.
Das würde ich so nicht sagen. Die Neurowissenschaft tut sich mit dieser Frage wahnsinnig schwer. Das liegt bis heute daran, dass man uns Menschen nicht beim Denken zusehen kann. Ein konkreter einzelner Gedanke, ist weder durch PET, fMRT oder EEG auflösbar. Also bei weitem nicht auflösbar, weder zeitlich noch anatomisch-räumlich. Und solange wir einzelne Gedanken neurowissenschaftlich nicht identifizieren können, kann man auch nicht feststellen, wie die Sprache auf das Denken zurückwirkt. Ich glaube das dürfte logisch sein.
Viele Menschen glauben (sic!) wohl es müsse schon rein intuitiv so sein, dass die Sprache das Denken (stark) beeinflusst. Wer sich jedoch mal angeschaut hat, wie stark unsere Emotionen unser Denken beeinflusst und wie unglaublich stark wiederum unsere Emotionen somatisch verankert sind, wird große Zweifel daran hegen, dass Sprache tatsächlich unser Denken (stark) konstituiert. Wenn es nämlich so einfach wäre, dann wäre jede Psychotherapie ein kurzes Gespräch und danach wäre alles Denken und Fühlen wieder supi. Ein chronisch depressiver Mensch z.B. könnte über solche Vorstellungen nur bitter hinweglächeln…
redrum hat geschrieben:Du weißt schon, das Sein bestimmt das Bewusstsein. Sein und Bewusstsein sind jedoch reflexiv.
Ein heutiger Psychologe würde erklären, dass in diesem Spruch immer schon der Irrtum lag, den die Psychologie aufzuklären versucht. Es ist demnach nicht das „Sein“, das das Bewusstsein reziprok beeinflusst, sondern das „Werden“. Z.B. das Werden in den ersten drei Lebensjahren eines Kindes. Dieses Werden beeinflusst Dein und mein Bewusstsein vermutlich viel mehr, als unser „Sein“. Bzw. unser Sein ist nur die Manifestation unseres frühen Werdens. Insbesondere hier z.B.:
redrum hat geschrieben:Natürlich ändert das nichts an der Situation. Ein Chauvinist bleibt ein Chauvinist, auch wenn er ein Binnen-i benutzt.
Die Ursache, warum ein Chauvinist ein Chauvinist ist, liegt ja nicht in seiner Sprache. Der Chauvinist will glauben, dass die Gruppe der er angehört allen anderen überlegen sei. Ähnlich wie ein Narzisst, der sich auch nur zu gerne für immer überlegen hält, dient die Konstruktion der eigenen Überlegenheit nur der Dämpfung der eigenen Minderwertigkeitsgefühle. Beim Narzissmus gilt dieser Zusammenhang heute als dermaßen klar herausgearbeitet (z.B. durch Hans-Joachim Maaz in „Die narzisstische Gesellschaft“), dass offensichlich wird, dass nichts stärker unser Bewusstsein beeinflusste, als unser ehemaliges Werden.
redrum hat geschrieben:Noch kurz zur Rasse. Auch hier möchte ich dir widersprechen. Nicht weil die das UNHCR den Begriff 1995 abgeschafft hat, sondern weil er auch wissenschaftlich nicht haltbar ist. Es ist schließlich durchaus wahrscheinlich, dass die genetischen Unterschiede zwischen dir und mir größer sind, als die zwischen mir und meinen Nachbarn, obwohl diese Schwarz sind.
Diese Einschätzung teile ich zwar, greift aber meines Erachtens dennoch in der Summe zu kurz. Du wirst vielleicht schon mal gelesen haben, dass es in unserer Menschheitsgeschichte tatsächlich so etwas wie eine Eva gegeben hat. Allerdings waren es 5 Evas. Denn alle Menschen die heute leben sind immer noch genetisch einer dieser 5 Evas zuzuordnen. Die Unterschiede zwischen den Eva-Gruppen sind durchaus beachtlich, z.B. zwischen der asiatischen Eva und der kaukasischen Eva. Gut, man könnte jetzt hinterfragen, warum man diese Unterschiede in Rassen sortieren will. Den meisten Biologen wäre das eh schnurz, weil sie durch das Wissen um echte Genetik schon sehr weitgehend imprägniert sind gegen Rassismus. Aber diese Unterschiede sind real und müssen auch besprochen werden können, gerade weil sie in der Medizin, z.B. in der Wirkstoffentwicklung eine wichtige Rolle spielen können.
Wenn man nun den Begriff der Rasse abschafft, bleiben uns zwei Dinge erhalten: i) es wird sich ein neuer Begriff finden, der den Begriff Rasse einfach ersetzt und – so habe ich Dein Posting gelesen – zumindest für uns beide die entscheidende Sache bleibt, ii) es wird Schwarzen weltweit weiterhin sehr dreckig gehen. Das primäre Ziel des Antirassismus darf nie die Sprache sein, sondern muss immer auf eine reale Veränderung des sozioökonomischen Status von Menschen hinarbeiten, denen es auch auf Grund von jahrzehntelanger Diskriminierung so schlecht geht.
Wer ernsthaft glaubt, er gehöre schon nur deshalb zur moralischen Avantgarde, weil er sich ja auf Twitter oder Facebook oder Wasweißichfüreinenscheiß für politisch korrekte Sprache einsetzt, dann aber wieder im Lebensalltag von Kinderarbeit profitiert oder Teil der Plastik- oder Elektroverschrottung in Armutsgebieten ist oder generell Produkte kauft, die andere Menschen unter sehr unwürdigen Bedingungen herstellen mussten, um in dieser scheiss ungerechten Welt überhaupt was zu fressen zu haben, wer also so handelt, ist für mich kein Anti-Rassist, sondern lebt lediglich etwas zu gerne in der Phantasie, dass ihm der Fahrtwind der Geschichte um die Nase wehen würde.
:winke-winke: