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ZEITUNG FÜR DEUTSCHLAND
Die Niederlage der Denker
Alain Finkielkraut widerlegt Agamben und Sloterdijk
Von Jürg Altwegg
Gefangen im Grauen: Man dürfe nicht vergessen, sagt Alain Finkielkraut, dass das Leben tragisch ist. AFP
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Auch Alain Finkielkraut hat im Ausnahmezustand in Paris „Die Pest“ wiedergelesen: „Camus beschreibt den Krieg als Epidemie. Heute bekämpft Macron das Coronavirus mit den Idiomen der Kriegsrhetorik.“ Für Finkielkraut handelt es sich um ein Ereignis, „wie wir es bisher nicht kannten und das unvorhersehbar war“. Deshalb seien „voreilige Schlussfolgerungen“ unmöglich. Er lobt die Staatschefs, die den „Primat der Politik“ von der Wirtschaft zurückerobert haben.
Keinerlei Verständnis hat Finkielkraut für die „hasserfüllte“ Kritik der Intellektuellen an den Regierungen, „denen sie vorwerfen, entweder zu spät gehandelt zu haben oder mit übertriebenen Maßnahmen zu reagieren“. Der französische Philosoph Robert-Walter Redeker macht Macron für Tote verantwortlich, die sich am 15. März in den Wahllokalen angesteckt hätten. Giorgio Agamben und Peter Sloterdijk unterstellen ihm, eine banale Grippe zur Epidemie hochzuspielen und die totale Überwachung durch den Staat durchsetzen zu wollen.
Mit Entsetzen las Finkielkraut ein Interview, das Sloterdijk dem Nachrichtenmagazin „Le Point“ gewährte. Der deutsche Philosoph empfiehlt darin, „Die Pest“ zu vergessen und besser Boccaccios „Decamerone“ zu lesen. Macron rät er zu einer „pazifistischen Rhetorik“: „Manchmal führt man den falschen Krieg. Der Kampf gegen ein Virus hat nichts mit einer militärischen Mobilmachung zu tun.“ Sloterdijk weiter: „Die Pest hat den Aufstieg Europas nicht verhindert, und das tausendmal harmlosere Coronavirus wird jenen Chinas nicht stoppen.“
Unter Bezug auf Boccaccio skizziert Sloterdijk im besten Jargon der Postmoderne eine neue Wissenschaft, die „Labyrinthologie“. Die Medizin macht er zum Komplizen einer totalitären Politik, die gerade den totalen modernen Sicherheitsstaat begründet: „Die Gespenster der wiedergefundenen Ordnung kehren zurück“ – das können im französischen Kontext nur Vichy und Pétains Faschismus sein. Finkielkraut bringt Sloterdijks Wahngebilde als „Foucaults Diktatur der Biopolitik“ auf den Punkt. „Zynisch“ nennt er dessen Kritik an der Schließung der Schulen, die der autokratische „Souverän“ im Sinne seines Gesellschaftsprojekts durchgesetzt habe: „Kinder mögen ungefährdet sein, aber sie übertragen die Krankheit“, hält Finkielkraut dagegen.
Mit Peter Sloterdijk hat er vor Jahren einen Gesprächsband veröffentlicht, „Les battements du monde“. „Er war ein anregender Partner, leider ist das Buch nur in Frankreich erschienen, weil Sloterdijk nie die Geduld hatte, seinen eigenen Text ins Deutsche zu übertragen“, sagt Finkielkraut. Das Interview seines früheren Gesprächspartners stimme ihn „traurig“: „Sein Ton und sein Inhalt sind widerlich – Sloterdijks Arroganz ist unerträglich.“
Mit dem „selbsternannten Hannah-Arendt-Schüler“ Giorgio Agamben geht Finkielkraut ebenso heftig ins Gericht. Der Terrorismus war für Agamben ein Vorwand zur Einführung des Ausnahmezustands, der jetzt zum Dauerzustand werde. Er schrieb das in einer italienischen Zeitung und wurde danach von „Le Monde“ interviewt. Agamben, fasst Finkielkraut zusammen, „hält die Epidemie für eine Erfindung und kritisiert, dass die beiden herrschenden Ideologien zum Virus schweigen würden. Er meint damit die christliche Kirche und den Kapitalismus mit seinem Glauben an das Geld. Der Gesellschaft wirft er vor, ihre politischen und ethischen Werte aufzugeben. Er schreibt das in einer Zeit, in der die italienischen Zeitungen täglich zehn bis zwölf Seiten Todesanzeigen publizieren.“
Auch Finkielkraut beruft sich auf Hannah Arendt. „Die Barbarei der modernen Welt“ ist ein Leitmotiv seiner kulturkritischen Philosophie. In einem epochalen Essay analysierte er vor dreißig Jahren „Die Niederlage des Denkens“. Mit Sloterdijk und Agamben habe es aufs Neue kapituliert: „Heute ist man versucht, für alles eine Erklärung zu haben. Und wenn man sie nicht zur Hand hat, braucht man eben einen Feind. Am besten einen Verräter.“
Wie Sloterdijk hat Finkielkraut das zwanzigste Jahrhundert im Visier: „Es hat uns gelehrt, dass die Dummheit nicht das Gegenteil der Intelligenz ist. Es gibt eine Dummheit der Intelligenz und die Dummheit der Intellektuellen, die in Systemen denken. Bei allem, was dem Menschen geschieht, hat der Mensch stets seine Hand im Spiel. Wir sind nicht nur ein Spielball und ein Produkt der Strukturen. Nichts kann sich der Geschichte entziehen, die ihr Urteil fällen wird.“
Selbstverständlich, fügt Finkielkraut hinzu, werde man die Defizite, die mangelnde Vorbereitung, das Zögern oder auch die Überreaktionen hinterfragen müssen: „Aber man darf nie vergessen, dass die Ungewissheit Teil der menschlichen Existenz und das Leben tragisch ist. Genau dieses Vergessen manifestiert sich in den ungerechten Attacken. Man stelle sich eine Schrecksekunde lang vor, die allwissenden Intellektuellen würden an die Stelle der Regierenden treten: Dann hätten wir zusätzlich zum Albtraum der Epidemie das Grauen schlechthin.“
Man sollte vielmehr, fordert der Philosoph, den Politikern dankbar sein, dass sie die Gesundheit aller wichtiger nehmen als das Geld: „Sie haben die Prioritäten richtig gesetzt. Sie wollen die Schwächsten und die Verwundbarsten retten.“ Alain Finkielkraut erwähnt die „unnützen Mäuler“ und denkt zweifellos an das „unwerte Leben“: „Das Leben eines Greises ist so viel wert wie jenes eines Menschen im Vollbesitz seiner Kräfte. Solange wir dieses Prinzip hochhalten, hat der zeitgenössische Nihilismus nicht endgültig triumphiert, und wir bleiben eine Zivilisation.“
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