Es ist wirklich unerhört
. Die Bergarbeiter im Norden Großbritanniens interessieren sich ebenso wenig für die Wahlempfehlungen Hamburger Redaktionen wie für die Warnhinweise zu den Tories, formuliert von den Meinungsführern aus Berlin-Mitte. Diese hatten nun wirklich hinreichend deutlich gemacht, dass es nicht okay ist, die Konservativen zu wählen, und schon gar nicht, wenn an deren Spitze ein gut gelaunter, listiger Hallodri steht.
Es kam anders. Ganz anders. Irgendwann wird die Geschichte geschrieben, welche die unrühmliche Konsequenz deutscher Juste-Milieu-Politiker vor der Brexit-Abstimmung mit ihren BBC-Interviews in autoritärem Ton und mit durchwachsenem Schulenglisch analysiert.
Diese neue ungebrochene deutsche Sehnsucht, es dem Rest der Welt beizubringen, wie er zu denken und zu wählen hat, ist nicht nur ahistorisch, sondern einfach auch auf interessante Art selbstvergessen. Niemand mag den deutschen Besserwisser. Wenn die Bürochefin der ARD in London auf ihrem Twitteraccount kaum von einer Anti-Johnson-Aktivistin zu unterscheiden ist und gar nicht mehr spürt, wie anmaßend und unjournalistisch das sein kann, muss man sich nicht wundern, warum viele deutschen Medien so falschlagen in ihren Prognosen und rituellen Grabreden auf Boris Johnson. Da war der Wunsch Vater der Berichterstattung.
Dass ausgerechnet wir Deutschen nach dem 20. Jahrhundert gegenüber den Briten öfter mal die Klappe halten sollten, müsste eigentlich jeder ahnen, der schon mal etwas über Churchill und den Zweiten Weltkrieg gelesen hat. Für Aliteraten reicht auch der großartige Film von Joe Wright.
Zu studieren ist, wie sehr persönliche Weltanschauung den Blick auf die Realität verstellen kann. Nach dem für unmöglich gehaltenen Brexit und nach der nicht für möglich gehaltenen Wahl Trumps ist der Triumph von Johnson ein weiteres Indiz für die mangelnde Professionalität einiger „Experten“. Und als wäre das nicht schlimm genug, erweisen sich einige Geistesgrößen als schlechte Verlierer. Ulrike Guérot, eine der „Vordenker*innen“ der Berliner Republik, macht den (Tief-)Punkt: „So müssen sich die Wähler 1933 gefühlt haben“, twitterte sie nach den ersten Hochrechnungen
. Sie ist nicht nur Professorin, sondern leitet einen Europa-Thinktank in Berlin, in dessen Netzwerk man auf der Homepage schön herumspazieren kann, um zu sehen, wer da mit wem über die Zukunft der europäischen Demokratie nachdenken will.Die Briten werden gehen und wir Deutschen, insbesondere die Steuerzahler und die in der freien (!) Wirtschaft ihr Geld verdienenden Angestellten, verlieren einen wichtigen Brückenkopf ökonomischer Vernunft, weltanschaulicher Feinheit und in Gestalt der parlamentarischen Kultur auch ein Bollwerk eleganter und humorvoller Debatten
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Wie sehr uns gerade auch dieser brillante Sinn für Selbstironie und heiteren Sarkasmus fehlen wird, kommt insbesondere in der trostlosen Verbitterung und Humorfreiheit der toitschen Besserwisser und ihrem kläglichen Niveau zur Geltung. Wir haben die Briten mit aus der EU getrieben, jetzt können wir sie auch noch als Freunde und Partner außerhalb der EU verlieren. Viele Reaktionen nach dem Sieg von Johnson sind mehr als blamabel. Die
nationalmoralistischen Eliten kassieren ihre nächste Ohrfeige. Mal sehen, ob die SPD das Ergebnis richtig interpretiert.