UN-MIGRATIONSPAKT UND MEDIEN
Wenn Gesinnungsethik die sachliche Aufklärung verhindert
Haben deutsche Medien die Debatte über den UN-Migrationspakt im vergangenen Jahr verschlafen? Der Wissenschaftler Michael Haller hat die Berichterstattung analysiert – und übt heftige Kritik.
Vor rund zwei Jahren hatte der frühere Journalist und spätere Kommunikationsforscher Michael Haller eine umfassende Analyse zur Berichterstattung der Flüchtlingskrise in den Medien vorgelegt. Überregionale Zeitungen, so der Befund aus einer Inhaltsanalyse von Zehntausenden von Beiträgen, hätten sich vor allem an den Positionen der politischen Elite abgearbeitet und zu wenig mit den Einschätzungen von Bürgern und ihrer Alltagswelt befasst.
Die Lokal- und Regionalpresse habe dagegen zu sehr unkritisch das Narrativ der „Willkommenskultur“ übernommen. Einer der zentralen Sätze aus Hallers Untersuchung von damals: „Wer Skepsis anmeldete, rückte in den Verdacht der Fremdenfeindlichkeit.“ Ein differenzierterer Umgang mit dem heiklen Thema habe erst nach der Kölner Silvesternacht von 2016 eingesetzt.
Haller sorgte mit dieser Studie – nicht ganz überraschend – für Aufsehen. Die Verquickung eines der wichtigsten gesellschaftlichen Themen mit der medialen Berichterstattung darüber barg Sprengstoff in einer Zeit, in der Bürger sich fragen, ob ihnen von Politikern und Experten, aber auch von Medien, die unabhängig und unvoreingenommen informieren sollen, die Wahrheit gesagt wird.
Oder, um es weniger pathetisch auszudrücken, ob sie die vollständigen Fakten und Sachverhalte präsentiert bekommen, bei möglichst vollständiger Transparenz der jeweiligen Agenden der Entscheidungsträger. Die Schlussfolgerungen fielen nicht sehr schmeichelhaft aus.
Eine Studie der Uni Mainz kam später zu dem Ergebnis, Medien hätten problematische Aspekte der Flüchtlingskrise nicht ausgeblendet. Haller sagt dazu, er halte die beiden Untersuchungen für nicht vergleichbar, weil es bei der Mainzer Studie vor allem um die Frage gegangen sei, ob faktisch korrekt über Migranten berichtet wurde.
Nun legt der emeritierte Journalistik-Professor der Uni Leipzig eine neue Untersuchung
im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung vor. Die in ihrem ersten Teil (in einem zweiten Teil geht es um die Rezeption der ersten Studie) als Fallstudie über die Berichterstattung zum UN-Migrationspakt ausgeflaggt ist.
Zur Erinnerung: Der „Globale Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ wurde am 10. Dezember vergangenen Jahres in Marrakesch unterzeichnet und war davor mehr als zweieinhalb Jahre vorbereitet worden. Erstaunlicherweise wurde über dieses von der UN-Generalversammlung angestoßene Abkommen in den großen meinungsbildenden Medien, gedruckt, digital oder ausgestrahlt, erst etwa sechs Wochen vor Unterzeichnung umfassend berichtet. Obwohl hätte klar sein müssen, dass dieser Pakt, der legale Migration besser organisieren helfen soll, von großem öffentlichem Interesse war.
Denn bereits viele Monate vorher hatte sich in Deutschland vor allem die AfD des UN-Migrationspakts angenommen und auf Webseiten und sozialen Medien Stimmung gegen das geplante Abkommen gemacht. Die These dieser Gruppe von Gegnern war, dass an der Öffentlichkeit vorbei ein Pakt unterschrieben werden würde, der auf gesetzlich legalem Wege viel mehr Flüchtlinge ins Land bringen würde. Gezielt wurde Misstrauen gegen Politik, aber auch gegen Journalisten gestreut.
Ist es denn gerechtfertigt, zu sagen, fragt also Haller in seiner Fallstudie, „dass nicht allein die regierenden Politiker die Verhinderer waren, sondern auch die Leitmedien, in dem sie der Themenagenda der Bundesregierung folgten und die Bedeutsamkeit des Vorgangs nicht erkannten“?
„Konfliktthema verschlafen“
„Die Medien“, urteilt der ehemalige „Spiegel“- und „Zeit“-Journalist auf Basis seiner Auswertung, „haben das Konfliktthema verschlafen“.
Die Deutung liege nahe, „dass die Leitmedien weiterhin der Agenda der institutionellen Politik und ihrer Elite folgen und Konfliktstoff erst bearbeiten, wenn er von den Polit-Akteuren öffentlich thematisiert wird“. Für den medialen Dammbruch sorgte eine Erklärung des österreichischen Kanzlers Kurz, den Pakt nicht zu unterschreiben. Das war am 31. Oktober 2018. Danach explodierte die Berichterstattung förmlich (WELT berichtete).
Nun belässt es Haller in seiner Analyse nicht bei diesem pauschalen Urteil. Sein Team hat nach eigenen Angaben rund 700 Beiträge in „Süddeutsche Zeitung“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Bild“, „taz“ und WELT sowie Stichproben der ARD-„Tagesschau“ ausgewertet. Für alle ausgewerteten Leitmedien kommt er zu dem Schluss, dass sie „sehr spät, aber dann kraftvoll in den öffentlichen Diskurs“ eingestiegen seien.
„FAZ“ und WELT sei es dabei gelungen, informative Übersichten und Analysen zu veröffentlichen und dabei unterschiedliche Positionen über Sinn und Zweck des Paktes zu vermitteln, auch Leserargumente seien diskutiert worden. Beide Zeitungen widerlegten die Vorwürfe vor allem seitens der AfD, heikle Aspekte des UN-Paktes seien verschwiegen worden.
Während die „Bild“-Zeitung vor allem die innerpolitischen Konflikte in den Vordergrund gestellt habe, hätten „Süddeutsche“, „taz“ und „Tagesschau“ dagegen eher als „Propagandisten des Pakt-Projekts“ agiert. Vor allem weil sie Gegenargumenten kaum Raum gegeben hätten und sich letztlich, urteilt Haller, „dem Diskurs entzogen“.
Zu wenig hätten vor allem diese Medien zwischen der Darstellung des Sachverhalts und der Kommentierung getrennt.Praktisch alle erfassten Texte der „taz“, seien dem Credo gefolgt, der UN-Pakt sei „per se eine großartige Sache“. Gesinnungsethik habe bei diesen Zeitungen die sachliche Aufklärung geschlagen, „besserwisserische Prophetie“ die Darstellung von Kontroversen verhindert.
„Die ,Tagesschau‘ sollte ihr Selbstbild tiefer hängen“
Seien aus der Berichterstattung über die Flüchtlingskrise die richtigen Schlussfolgerungen gezogen worden? Haller sieht entsprechend zu dem jeweiligen Ansatz der Zeitungen nur einen bedingten Lerneffekt. Für die
„Tagesschau“ kommt er sogar zu einem deutlich negativen Urteil: sie sei in ihren Beiträgen
„ihrem tradierten Leitbild des moralisierenden Belehrungsjournalismus“ gefolgt. In Bezug auf die Regionalpresse, die in dieser Fallstudie nicht berücksichtigt wurde, warnt der Professor, dass Lernprozesse in manchen Redaktionen kaum noch zu leisten seien, da es ihnen zunehmend an Ressourcen mangele. Und endet in einer Warnung: „Wenn der Lokaljournalismus untergeht, wird der öffentliche Diskurs in Echokammern zerfallen und das Feld den Ideologien radikalisierter Gruppen überlassen.“