Sehe ich auch so. Manuel Gräfes Anmerkungen sind immer interessant, aber eben auch nicht frei von gewissen Interessen. Oft: Seine eigene Position im Markt.
Wie auch immer, kommen wir zu Sichtweisen zurück. Hier eine ganz andere - Eindrücke eines Berliner Amateur-Schiedsrichters:
Wir Schiris teilen ein hartes Los. Mal stehen wir im Weg oder sind "blind", werden rüde angemault, mal von Trainer*innen, mal von Spieler*innen oder aus dem Publikum. Ein willkommener Sündenbock. Ich wundere mich immer wieder, wenn bei einer Niederlage nicht Fehlschüsse eines Teams spielentscheidend gewesen sein sollen, sondern ein einziger (vermeintlicher) Fehlpfiff des Schiris. Wie wir auch entscheiden, eine Seite meckert (fast) immer.
Wie ich mit diesem Druck umgehe? Cool bleiben. Manchmal stoisch, aber durchaus auch humorvoll. Wichtig ist, auch mit der Körpersprache zu zeigen: So habe ich das gesehen und entschieden - und ich stehe dazu. War das jetzt Schieben, Unfall oder Foul? Wir haben zum Erkennen nur Zehntelsekunden, keine Wiederholung, keine Zeitlupe, keinen Kölner Keller, der uns unterstützt. Allenfalls Schiedsrichterassistent*innen. Wächst dann auch Angst? Eigentlich nicht, allenfalls vor einem spielentscheidenden Fehler im hitzigen Finish, der im schlimmsten Fall dazu führt, gleich Blitzableiter von Unmut und Wut zu werden.
In unserem Berliner Verein Viktoria Mitte haben sich mittlerweile 54 (!) Nachwuchsschiris ausbilden lassen. Drei davon haben hingeworfen, weil es ihnen zu gehässig zuging oder sie Sorge davor hatten, so Gravierendes zu erleben wie ein junger Schiri aus unserer Gruppe vor wenigen Wochen: Das Favoritenteam hatte 3:0 geführt, doch am Ende stand es 3:3 und der Schuldige war schnell gefunden: der Mann in Schwarz. Mit dem Schlusspfiff fielen derbe Sprüche, eine Rote Karte war die konsequente Folge. Aber nun wurde aus der verbalen Gewalt eine körperliche. Spieler des anderen Teams stellten sich schützend vor den bedrohten Schiedsrichter und wurden somit auch zur Zielscheibe des Frusts, einer von ihnen erlitt einen Kieferbruch.
Solche Einzelfälle können abschrecken. Sie sind zum Glück die Ausnahme und spiegeln nur einen Teil unseres Schiedsrichteralltags wider. Denn ich erlebe auch, dass rund 80 Prozent aller Spiele super laufen. Dann notiere ich schon mal für meine Ansetzer im Spielbericht: "Sehr gutes und faires Spiel. Nur ein einziger Freistoß nötig." Ja, das gibt es auch. Fußballspiele, bei denen es großen Spaß macht, sie in der allerersten Reihe genießen zu dürfen. Dann sage ich im Mittelkreis bei der Mannschaftsverabschiedung auch anerkennend: "Respekt!"
Viele Kolleg*innen stellen die Ohren zunächst auf Durchzug, nur wenn es laut wird, wird reagiert. Ich führe dann oft mit ernstem Blick nur den Zeigefinger vor die Lippen: "Pssst!" Das ist mein Signal. "Hör' auf, ich steh' zu meinem Pfiff, aber kann auch anders."
Natürlich gibt es Spiele, in denen wir uns irren. Ich knabbere manchmal selbst lange an Situationen, in denen ich etwas übersehen habe oder auch hätte anders entscheiden können. Dann ärgere ich mich über einen von mir wahrscheinlich zu Unrecht verweigerten Elfmeterpfiff in der Schlussphase genauso intensiv wie ein Mittelstürmer, der kurz vor Abpfiff frei vor dem Tor den Ball und damit den Sieg verpasst.
Weitere 15 Prozent der Begegnungen, so meine Erfahrung, sind sehr emotionale Spiele, oft mit Ruppigkeiten, aber trotzdem noch zu bändigen. Gefühlt rund fünf Prozent eskalieren jedoch, oft in der letzten Viertelstunde. Es kommt zum "Spiel im Spiel". Der Vorsprung schmilzt auf ein Tor oder ein enttäuschendes Remis droht. Dann spüren beide Teams: "Hier geht noch was, hier MUSS noch was gehen" – und das manchmal mit allen Mitteln.
In solchen Phasen, in denen der Druck auf alle Beteiligten wächst, sind wir Schiris nicht nur als Spielleiter*innen oder Dirigent*innen eines sportlichen Gesamtkunstwerks gefragt, in dem wir auf faire Regeleinhaltung und Spielfluss achten, sondern auch als Psycholog*innen und Dompteur*innen, die Aggressionen früh erkennen und helfen sollen, dass angespannte Situationen nicht eskalieren. Denn die Gesundheit jedes Beteiligten geht vor, ob sie nun durch fehlende Schienbeinschoner, Verbalfouls oder Monstergrätschen beeinträchtigt werden könnte.
Der Berliner Fußball-Verband bietet inzwischen regelmäßig lohnende Sonderschulungen an, die unter dem Titel "Schiri, Du Pfeife" reichlich Rüstzeug und praktische Beispiele zur Deeskalation solcher Situationen bieten. Leider gehören diese Abendseminare noch nicht zum Pflichtprogramm. Mit guten Ansprachen fängt das "Herunterkochen" in der Regel schon vor Anpfiff an. Bei der Begrüßung sage ich häufig zu Jugendspieler*innen: "Bitte zeigt allen heute, wie gut ihr gelernt habt, mit dem Ball am Fuß umzugehen und als Team erfolgreich alles zu geben. Aber verzichtet bitte auf stoßende oder klammernde Arme und spitze Ellenbogen. Lacht bitte nie über Fehler eurer Gegner*innen und meckert nicht über die in den eigenen Reihen, sondern motiviert euch. Fehler können nicht nur euch, sondern auch mir passieren. Dann sagt's mir bitte leise, dass ihr es anders seht, aber meckert nicht laut. Das ist okay und ich muss keine Karte zeigen." Oft wirkt das selbst bei Erwachsenen.
Im Kopf kommentiere ich oft selbst das Spiel, das schärft die Konzentration über den Tunnelblick hinaus, den man sich angewöhnt, um genau zu verfolgen, welcher Fuß jetzt gerade den Ball berührt oder die Beine der Gegner*innen und mit welchen Folgen. Bringt das schon aus dem Gleichgewicht oder ist Vorteil noch angebracht? Und ein wenig fiebere ich dabei in Gedanken auch mit: "Oh, wie löst er das jetzt? Strafraum. Mach' jetzt bloß kein Foul…Stark klärt sie das! Cooler Pass! Pech. Abseits." Und Pfiff!
Ein gutes Spiel endet in der Regel, wenn sich abschließend Trainer*innen und Spieler*innen auch bei uns Unparteiischen bedanken. Ein anerkennendes "Gut gepfiffen, Schiri" passiert häufiger als viele denken. Öffentlich geredet wird über solche gegenseitige Wertschätzung kaum.
Und auch nicht über Situationen wie diese, die ich kürzlich im Schiri-Container von Hansa 07 in Kreuzberg erlebte. Da warteten auf dem Tisch eine Flasche Wasser, Müsliriegel und etwas Obst. Daneben ein handgeschriebener Zettel mit persönlicher Anrede jedes Schiris eines Spieltags. Bei mir stand: "Holger Kulick, vielen Dank, dass du da bist!" FSJler*innen haben dem Verein die charmante Idee nahegebracht, auf diese Weise Wertschätzung für uns Schiris auszudrücken – eine Supergeste, die hoffentlich bald in ganz Berlin und Deutschland Schule macht.
Toller Text, finde ich. Aber ich habe ja nie selbst gekickt. Oder gar gepfiffen.
https://www.fussball.de/newsdetail/kuli ... /250934#!/