Neckarstadion1. Die frühen Jahre
Es muss in der Spielzeit 1954/55 gewesen sein, als mein Vater zu mir sagte: „Heid schbieald da Barufka widdor. Den musch ohbedengd säha.“ Karl (Kalli) Barufka war einer der Meisterschaftshelden des VfB und neben Robert Schlienz der beliebteste Spieler bei den Anhängern („Fans“ gab es damals noch nicht). Er war längere Zeit verletzt und für mehrere Monate ausgefallen und das war sein erstes Spiel nach seiner Gesundung.
https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_BarufkaVon ihm erhoffte man sich viel, denn es lief in dieser Spielzeit nicht besonders gut für den VfB.
Nun, mein Vater hatte mich natürlich neugierig gemacht und so ging ich mit zu meinem ersten Spiel des VfB im Neckarstadion. Die Zuschauer schwelgten noch in der Begeisterung des 2. Meistertitels 1952, aber der anfängliche Jubel über Barufka ebbte bald ab. Das Bruddeln, hauptsächlich von der Haupttribüne, nahm mit Dauer des Spieles zu und schließlich wurden die Spieler ausgepfiffen. Schlechte Stimmung im Stadion. Die Mannschaft spielte nicht gut und das Spiel ging verloren. An den Gegner kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber am Ende der Spielzeit war der VfB 13. oder 14.
Mein erster Besuch im Neckarstadion lag allerdings schon etwas zurück. Ich weiß nicht mehr, was das für eine Veranstaltung war, zu der uns unsere Eltern mit ins Stadion geführt hatten. Das war 4 oder 5 Jahre früher.
In meiner allerersten Erinnerung sehe ich mich, oben am Marathontor in der Untertürkheimer Kurve, auf berittene Polizisten hinabsehen, die sich zum gemeinsamen Einritt in das Stadion gruppiert hatten. Die Stuttgarter Polizei trug damals noch ihre blaue Uniform, die sie von den Landespolizisten, den „grünen Landjägern“ abhob. „Oben“ war relativ, denn das Stadion war noch nicht ausgebaut. Projiziert auf das später ausgebaute Stadion war es also nur auf halber Höhe. Aber mir kam mein Ausblick immens hoch vor. Es ging nicht um ein Fußballspiel. Außerfußballerische Attraktionen wurden damals im Neckarstadion hin und wieder angeboten und waren stets gut besucht, da man dafür keinen Eintritt bezahlen musste. So gab es Sportfeste auf denen Männer in Rhönrädern über den Rasen rollten oder Gymnastikgruppen von Frauen auftraten. Ein andermal präsentierte Mercedes seine Wagenflotte auf der Aschenbahn, die damals wirklich noch mit einem Aschebelag versehen war.
Das Stadion, vor dem Krieg „Adolf-Hitler-Kampfbahn“, das den Krieg nahezu unversehrt überstanden hatte, entsprach noch seinem ursprünglichen Zweck, ein Ort für Sportveranstaltungen unterschiedlichster Art zu sein, aber insbesondere für die Leichtathletik und den Fußball.
Sitzplätze gab es nur auf der Haupttribüne. Die Gegengerade und die Kurven waren noch nicht ausgebaut. Wenn man sich bei diesem Foto die Tore hinzudenkt, hat man einen guten Eindruck vom damaligen Aussehen.



Es gab lediglich einen Eingang, hinter der Haupttribüne. Man stellte sich in Reihen an den Holzhäuschen vor dem großen Tor an und bekam, wie auf dem Volksfest, eine Eintrittskarte von der Rolle. Sicherheitskräfte gab es nicht. Allerdings war die Polizei immer mit der berittenen Abteilung am Eingang anwesend. Ich wüsste aber nicht, dass ich sie jemals hätte eingreifen sehen. Alle Spiele, die ich damals gesehen habe, verliefen friedlich.
Vor dem Aufgang zur Haupttribüne waren links und rechts die Stände, bei denen man ein Sitzkissen für 20 Pfennig leihen konnte, um sich bei kaltem Wetter nicht den Arsch zu verkühlen. Die Haupttribüne habe ich nie betreten. Meinem Vater war der Eintritt zu teuer und ich bekam kein Taschengeld.
Hatte man einmal den Stadionbereich betreten, konnte man sich unbehindert auf dem gesamten Gelände bewegen, bei genügendem zeitlichem Vorlauf zum Anpfiff, sogar das Stadion umrunden. An einem der wenigen Fress-Stände konnte man sich eine Rote für 70 Pfennig kaufen, entweder vom Holzkohlengrill oder aus dem Heißwasserbehälter. Ob damals schon Bier verkauft worden ist, weiß ich nicht. Mein Vater, zumindest, hätte es sich nicht leisten können. Es gab für mich auch keine Rote.
Mein Vater pflegte, sich das Spiel von der Gegengeraden aus anzusehen. Er traf sich dort mit seinen Kumpels, alles ehemalige Soldaten. Bei schönen Wetter konnte man sich auf die Stufen setzen, denn voll habe ich das Stadion in diesen Jahren nie erlebt. Die „Wellenbrecher“ wurden erst später beim Ausbau installiert. Ich wanderte, wenn mir das Spiel zu langweilig vorkam, auch schon mal von dort aus in die Kurven, um das Spiel aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, denn zwischen den Zuschauerrängen gab es keine Trennung.
Durch die Ränge wanderten Verkäufer mit Südmilch-Eis für 20 Pfennig (Vanille, Schokolade, Erdbeere), das sie aus umgehängten Holzkästen mit Trockeneis anboten. Es gab damals nur die eine Form, als Quader mit Holzstielen. Ein Verkäufer war besonders beliebt. Seinen Spruch habe ich behalten: „Eis am Schdiel, dao gibbds fiel, Eis am Schdägga, dao kennador schlägga, Eis am Schdozza, dao kennedor schlozza.“
Und dann gab es noch die Popcornverkäufer mit ihren großen Aluminiumtonnen, über die Schulter gehängt wie eine Trommel, die ihnen beim Gehen immer gegen das Knie schlugen. Salziges Popcorn war beliebter als süßes. Der Cellophanbeutel für 30 Pfennig.
Die Anzahl der Toilettenhäuschen war bescheiden und vor allem in der Halbzeit war es ein langes Anstehen. Zwischen den Aufgängen war rings um das Stadion Erde aufgeschüttet und mit Rasen bepflanzt.
Die Haupttribüne hatte, wie auch das Stadion, den Krieg unversehrt überstanden. Logen gab es nicht. Die „Großkopfeten“ saßen direkt über dem breiten Mittelgang, etwa auf halber Höhe. Sie konnten somit auf die Spieler herabblicken, wenn sie aus- und einliefen. d.h. die Spieler gingen bis zur Aschenbahn und liefen dann auf den Rasen. Mein Vater zeigte mir, wo der damalige Präsident, Fritz Walter, saß. An weiter VIPs kann ich mich nicht erinnern. Der Fußball war noch kein Ereignis, das Gutbetuchte von weniger Betuchten trennte. Gewissermaßen hatte er seine Unschuld noch nicht verloren. Die Spiele waren egalisierende Veranstaltungen im wahrsten Sinne.
Ganz oben, in der Mitte der Haupttribüne war ein großer Glaskasten, in dem man eine Person sitzen sehen konnte, den „Ansager“. Die Stimme kam mir sehr bekannt vor. Es war der Nachrichtensprecher des Süddeutschen Rundfunks. Er gab mit sonorer Stimme über die Riesenlautsprecher links und rechts an den Außenwänden die Mannschaftsaufstellungen durch und übermittelte Ansagen der Polizei. „Nach dem Spiel können Autofahrer in Richtung Untertürkheim die Parkplätze sofort verlassen. Fahrer in Richtung Cannstatt bitten wir, 20 Minuten zu warten.“
Die Spiele fanden ausnahmslos am Sonntag statt, denn der Samstag war ja im Rahmen der 48-Stunden Woche noch regulärer Arbeitstag. Und übrigens für uns Schüler auch Schultag, bis 12.00 Uhr. Diese Aktion, übrigens höchst erfolgreich, begann erst 1956:

Spielbeginn war, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, jeweils um 15.00 Uhr.
Mein Vater war immer frühzeitig im Stadion, denn so konnte er auch noch das Vorspiel der VfB-Reserve ansehen. Das Spiel der Reservisten begann ohne Ansage und die Spieler liefen auch nicht ein, wie zum Hauptspiel die 1. Mannschaft. Das Spiel wurde von den Zuschauern nicht kommentiert, bis auf spärlichen Beifall, wenn der VfB ein Tor geschossen hatte.
Je mehr sich die Ränge füllten, desto lauter wurde die Geräuschkulisse. Zur Einstimmung wurde immer nur ein Musikstück aufgelegt. Dieses hier:
Mandolino von Les Paul begleitete jahrelang die Heimspiele des VfB. Es ist schon irre, wie sich dieses Stück in mein Gedächtnis eingegraben hat. Wahrscheinlich hatte der Verein kein Geld, um mehr an die GEMA zu zahlen.
Zwischendurch gab es noch Werbung für örtliche Unternehmen. „Vergiss nicht Deinen Hugendubel.“ Oder „Alter schützt vor Torheit doch“. Hugendubel war ein Schirmgeschäft, das auch in der Straßenbahn Werbung betrieb. Der Schaffner, ja, die gab es damals noch, rief es dem Fahrgast hinterher, sich mit dem Schirm weit aus der Tür lehnend.
https://www.stuttgarter-zeitung.de/inha ... f9726.html
Und Alter war ein Geschäft für Öfen. Kohleöfen, versteht sich.
Dann begrüßte der Stadionsprecher die Zuschauer und die gegnerische Mannschaft und gab die Aufstellungen bekannt.
(Fortsetzung folgt)