Jahresbilanz des VfB Stuttgart
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Regen am Ende eines Traumurlaubs
22. Dezember 2024, 17:31 Uhr
Lesezeit: 4 Min.
Der VfB Stuttgart beendet ein großes Fußballjahr im Bundesliga-Mittelmaß auf Tabellenplatz zehn - und steht in der Winterpause unter Druck, Verstärkungen für den von Verletzungen geplagten Kader zu verpflichten.
Von Christof Kneer
Im Fanshop des VfB Stuttgart sind beide Artikel nicht erhältlich. Der graue Parka, mit dem Deniz Undav seit Wochen vor die Leute tritt, ist ebenso wenig käuflich zu erwerben wie sein schwarzer Schlauchschal. Gleiches gilt für die Winterausrüstung von Jamie Leweling. Am Wochenende haben die beiden Stürmer ihre Kollektion aber immerhin noch mal auf dem prominenten Laufsteg des Stuttgarter Stadions vorgeführt. Leweling gab vor dem Spiel gegen den FC St. Pauli ein TV-Interview, Undav sprach in der Halbzeit. Und als das Spiel mit einer 0:1-Niederlage zu Ende gegangen war, standen beide dick vermummt auf dem Rasen und wussten ebenso wenig wie der Rest des Publikums, was sie von den vergangenen 90 Minuten, den vergangenen Wochen und Monaten halten sollten.
Den Spielern, Verantwortlichen und sonstigen Angehörigen des VfB Stuttgart ging es am Samstagabend wie jemandem, der einen unbeschreiblich langen und schönen Urlaub hinter sich hat und am letzten Urlaubstag, kurz vor Erreichen des Flughafens, mit dem Shuttlebus liegenbleibt. Der dann durchs Schiffwetter ins knallvolle Flughafengebäude hetzt, um dort entnervt festzustellen, dass er den Anschluss verpassen wird. Und dem, zu Hause angekommen, alle prüfend ins Gesicht schauen und sorgenvoll fragen, ob er sich denn nicht gut erholt habe. Doch, würde der Heimkehrer gerne brüllen, das war nur der blöde Rückflug! Der Urlaub war der beste Urlaub meines Lebens! Andererseits: Warum groß erklären? Es würde ja doch keiner verstehen.
Der VfB Stuttgart muss jetzt damit leben, dass man ihn nach dem 0:1 gegen einen grandios verteidigenden FC St. Pauli eine ganze Weihnachtspause lang im Mittelfeld der Tabelle wiederfindet. Und dass man dieses Mittelfeld unfairer Weise mit dem Tabellenplatz der Vorsaison (2.) vergleicht und es folglich als Mittelmaß diskriminiert. Und dass in dieser kurios engen Tabelle schon ein simpler Sieg gegen St. Pauli gereicht hätte, um auf Platz fünf zu springen und sich wieder an die Champions League heranzuschleichen. Beim VfB differenzieren sie das natürlich, aber in der öffentlichen Wahrnehmung liegt nur dieses Pauli-Spiel zwischen einem VfB, der die ohnehin hohen Erwartungen erneut auf bemerkenswerte Weise übererfüllt, und einem VfB, der jetzt endlich den Preis für diese hohen Erwartungen bezahlen muss.
„Maximal enttäuscht“ sei er, sagte Trainer Sebastian Hoeneß nach dem 0:1 und meinte nicht den grundsätzlichen Trend, sondern erst mal nur dieses eine blöde Fußballspiel. Dieses Spiel warf sogar die Frage auf, ob sich der Trainerstab womöglich ein wenig verpokert hatte, indem er darauf verzichtete, die Spieler Undav und Leweling aus ihrer Winterkluft zu befreien und wieder ins Trikot mit dem Brustring zu stecken.
Er sei fit und könne eigentlich spielen, hatte Undav im Halbzeit-Interview gesagt, aber „man“ habe entschieden, kein Risiko einzugehen, und das sei ja auch verständlich. Tatsächlich war Undav im November schon einmal zu früh in den Betrieb zurückgekehrt, aus einer kleinen muskulären Problematik wurde ein Muskelfaserriss – auf der Oberschenkelrückseite, jener im Alltag wie im Profisport weniger geforderten Körperpartie, die beim VfB zur klassischen Überbelastungsschwachstelle geworden ist; Leweling fehlt wegen dieser Blessur seit dem 1. November. Was nichts daran änderte, dass sich das Publikum spätestens in der 74. Minute fragte, ob eine Einwechslung von Undav den Gegner aus Hamburg nicht eher geängstigt hatte als der zur Verschärfung des Schlussspurts eingewechselte Außenverteidiger Pascal Stenzel.
Ein Heimspiel ohne eigenes Tor hat es unter Hoeneß zuvor nie gegeben
Diese eine Partie gegen St. Pauli werde man vor der Winterpause auch ohne Undav und Leweling noch schaffen, das war der Leitgedanke in einer ausnahmsweise mal spielfreien Woche gewesen. Am Ende entpuppte sich das Spiel gegen St. Pauli aber als das eine Spiel zu viel, was sich anschaulich am Tor des Tages erkennen ließ, das Paulis Mittelstürmer Johannes Eggestein unvermittelt vor die Füße fiel – nach einer Fehler- und Fahrigkeitskette, an der nicht zufällig die Vielspieler Anthony Rouault, Jeff Chabot, Angelo Stiller und Maximilian Mittelstädt beteiligt waren (21.). Diesem Tor rannte, passte, flankte, kämpfte und verzweifelte der VfB den Rest der Spielzeit hinterher, mit viel gutem Willen und vielen guten Aktionen des frisch erblühten Nick Woltemade. Aber am Ende war halt doch das Fläschle leer, wie der ehemalige VfB-Trainer Giovanni Trapattoni gesagt haben würde.
Der VfB hat in diesem Jahr vieles erlebt und gesehen, das meiste davon war sehr schmeichelhaft. Der VfB ist zum Hauptlieferanten der deutschen Nationalelf und zur Referenzmannschaft vieler Trainer aufgestiegen, die sich heimlich jedes VfB-Spiel anschauen, um die Spielzüge zu studieren; der VfB hat sich mit Dortmund um zwei Spieler gestritten (und den Kampf natürlich verloren), er hat zwei Rekordtransfers getätigt (Ermedin Demirovic, Deniz Undav) und bei Juventus Turin im Stile einer europäischen Spitzenmannschaft gewonnen. In der letzten Partie des Jahres haben die Stuttgarter aber noch einmal zwei neue Erfahrungen gemacht: Dass ein Heimspiel ohne eigenes Tor vorübergeht, das gab es in 28 Hoeneß-Heimspielen zuvor nicht. Und dass Torwart Alexander Nübel einen Elfmeter hält (Eggestein, 53.): ein Weltwunder.
Auch in der aktuellen Saison hat der VfB immer wieder vorgeführt, auf welche Höhen er kommen kann, aber zur Souveränität eines Spitzenteams fehlte nicht nur die eine oder andere gesunde Oberschenkelrückseite, sondern auch eine verlässliche Abwehrhaltung. Der VfB besitzt auch weiterhin eine gut komponierte Elf, aber gegen St. Pauli zeigte sich erneut, dass es nicht gelungen ist, die Exzellenz der geflüchteten Abwehrspieler Waldemar Anton (zum BVB) und Hiroki Ito (zum FC Bayern) ausreichend zu ersetzen. „Ganz sicher ist es so, dass wir in der Rückrunde weniger Gegentore bekommen müssen“, sagte Hoeneß angesichts von 25 kassierten Treffern in 15 Spielen. Und ohne Anton und Ito beginnt auch der Spielaufbau nicht mehr ganz hinten, sondern erst im Mittelfeld beim allmählich überlasteten Angelo Stiller.
Gut möglich, dass sich der VfB in der Winter-Transferperiode um einen neuen Verteidiger bemühen wird. Die wilden Wechsel während des St. Pauli-Spiels, als Hoeneß mit der Innenverteidigung Chabot/Rouault begann und sie später in demonstrativ zur Schau gestellter Unzufriedenheit in Chabot/Chase, Chase/Keitel sowie Chase/Stiller veränderte, darf Sportchef Fabian Wohlgemuth wohl als sachdienlichen Hinweis begreifen. Und auch in der Offensive könnte nach diesem 0:1 noch ein gewisser Bedarf festgestellt werden, trotz der anstehenden Rückkehr der Männer in Parka und Schlauchschal.