Meine Stimme, mein Portemonnaie
Essay von Jürgen Schmieder, Los Angeles
And so, my fellow Americans: Ask not what your country can do for you. Ask what you can do for your country.
John F. Kennedy hat diese unvergessenen Worte gesagt, bei seiner Amtseinführung am 20. Januar 1961. Es war die Aufforderung an seine Landsleute, endlich mit der Jammerei aufzuhören, dass es sich die Regierung nicht zu ihrer Hauptaufgabe gemacht hat, einen persönlich glücklich zu machen – sondern sich stattdessen lieber zur persönlichen Aufgabe zu machen, alle Amerikaner glücklicher zu machen. Ein schöner Gedanke, von dem sich die Amerikaner am Dienstag allerdings deutlich wie nie distanziert haben: Sie haben nicht die Person gewählt, von der sie sich das Beste für alle Amerikaner versprechen, sondern nur für sich selbst.
Das ist, um das deutlich zu sagen, völlig legitim, ein wichtiges Element freier Wahlen: Niemand muss sich rechtfertigen, warum er für wen gestimmt hat – selbst wenn er die Entscheidung per Münzwurf getroffen hätte.
Es gibt nun Tausende Analysen, warum diese Wahl gelaufen ist, wie sie gelaufen ist: Mysterium Trump, Fehler der Gegner, tief verwurzelter Rassismus, weitverbreitete Misogynie, das sind die Schlagworte. Das hat alles seine Richtigkeit, und doch gehört zum Verständnis dieses Landes und seiner Leute noch mehr, weshalb Komiker und Politikphilosoph Jon Stewart den Zuschauern noch am Wahlabend zurief: „All die Schlüsse, die unsere Experten ziehen und mit Gewissheit verkünden werden: Sie werden falsch sein.“
Die Amerikaner, die für Trump gestimmt haben, wissen ganz genau, wer er ist – davor schützt keine Filterblase. Man könnte diesen Text füllen einzig mit schrecklichen Eigenschaften und furchterregenden Plänen. Die Wähler wissen das, und sie haben sich dennoch für Trump entschieden, weil sie glauben, dass es ihnen unter Präsident Trump besser gehen wird, als es unter einer Präsidentin Harris der Fall gewesen wäre. Es war Egoismus, nichts anderes. Dazu muss man wissen, dass dieser Begriff in Europa negativer belegt ist als in den USA – der amerikanische Egoismus kann in guten Zeiten sogar eine wunderbare Eigenschaft sein.
Die Amerikaner begrüßen sich mit der Floskel „How are you?“, also dem vermeintlichen Erkunden nach dem Befinden. Man kann das oberflächlich finden, weil die einzig akzeptable Antwort „good“ ist – oder als Transaktion, die beider Laune verbessert. Völlig akzeptabel sind nämlich kleine Prahlereien („Gut, ich bin befördert worden.“) sowie bragplaining, also Angeberei in Beschwerdeform: „Ach, Stress: Sohn ist im Eishockey-Auswahlteam, muss ihn heute zwei Stunden lang rumfahren.“ Man bekommt garantierte Bestätigung („Good for you!“), selbst wenn es den anderen überhaupt nicht interessiert. Man reagiert umgekehrt genauso und verabschiedet sich mit dem wohligen Gefühl, dass sich beide irgendwie freuen, den anderen getroffen zu haben. Win-Win.
Das ist anders als in Deutschland, wo man in solchen Momenten oft nur erfährt, wie miserabel das Wetter ist.
Oder die Nachbarn: Kein Amerikaner käme auf die Idee, die Nase zu rümpfen über den verwilderten Garten des anderen – weil es ihm ganz einfach piepegal ist. Die goldene Regel, die der demokratische Vizekandidat Tim Walz in einer seiner ersten Reden formulierte: „Mind your own damn business!“ – kümmere dich um deinen eigenen Kram.
Sie kümmern sich um sich selbst, die Amerikaner, was aber freilich zu Misstrauen führt: dass einen der Nachbar ausrauben könnte; dass die Polizei das nicht verhindern werde; dass Versicherungen den Schaden nicht bezahlen. Man ist selbst für den Schutz verantwortlich, deshalb das Pochen auf den zweiten Zusatzartikel der Verfassung, das Recht auf Waffenbesitz – unterstützt natürlich von Angstmacherei, wonach US-Städte zu Kriegsgebieten voller krimineller Einwanderer und obdachlosen Drogenzombies geworden seien.
Sie kümmern sich um sich selbst, und sie erlauben anderen, das auch zu tun. Wogegen sie allergisch sind: Wenn ihnen andere vermeintlich etwas befehlen wollen. Was sie tun sollen. Was sie sagen dürfen. Dass für eine allgemeine Krankenversicherung eine, wie sie das nennen, sozialistische Zwangsabgabe nötig sei. Sie sagen dazu Freiheit, in Wirklichkeit ist es Egoismus, und mit dieser Sichtweise lösen sie auch den Widerspruch beim Thema Abtreibung: Nein, nein, nein, Trump wolle doch gar kein landesweites Verbot einführen. Er wolle die Entscheidung lediglich den Bundesstaaten überlassen – und man könne doch jederzeit in einen ziehen, dessen Gesetzgebung einem passe. Diese Argumentation hört man immer und immer wieder, kein Witz.
Es passt zur kulturellen Vormachtstellung der USA, dass die Vorläufer dieses US-Egoismus längst auch in Deutschland angekommen sind. Man kümmert sich um sich, die Familie, Freunde, das engste Umfeld; später kümmert man sich um die Gemeinde – und sehr viel später darum, wie es der Nation jetzt und auch künftig gehen soll. Das Motto heißt jetzt: Ask what you can do for yourself!
Das waren Fragen, die sich viele Amerikaner gestellt haben: Unter welcher Regierung gibt es die Branche, in der ich arbeite, auch künftig? Welche verspricht, dass ich mehr Dollar auf dem Konto haben werde? Welche lässt mich in Ruhe und das tun, was ich will?
Man kann Pläne detailliert darlegen und die Zuhörer langweilen – oder es machen wie Elon Musk, der seine einstige Strategie zur E-Auto-Vermarktung („Fühl dich wohliger im ultracoolen Weltretter-Tesla“) anwandte und zu den Amish-Landwirten in Pennsylvania sagte: Euch geht es doch viel besser unter Präsident Trump, der euch anbauen lässt, was und wie immer ihr es wollt!
It’s the economy, stupid! Es ist kein Zufall, dass der Politikberater James Carville diesen Satz schon vor mehr als 30 Jahren eingeführt hat, für den Demokraten Bill Clinton. Damals war das gemeint als eine Aussicht auf bessere Zeiten für alle. Heute aber gilt: Die Amerikaner wählen keinen, der so ist wie sie – sie wählen, wer so reich und erfolgreich ist, wie sie selbst gerne wären, und der das ohne Rücksicht auf andere durchzieht. Ob Trump einen konstruktiven Beitrag zu Problemen in diesem Land leisten wird? Egal.
Die US-Börsen legten am Tag nach Trumps Sieg deutlich zu. Das taten sie nicht als Trotzreaktion oder weil an der Wall Street ohnehin alle durchgeknallt sind – sondern weil Anleger daran glauben, dass sich dieses Investment für sie lohnen wird. Ein Beispiel: Die geplante 35,3-Milliarden-Dollar-Fusion der Finanzhäuser Capitol One und Discover dürfte unter Trump schnell genehmigt werden. Der Aktienkurs von Capital One stieg am Morgen nach der Wahl um 15, der von Discover gar um 20 Prozent. Oder die Kryptowährung Bitcoin, deren Wert um zehn Prozent stieg: Seit der Finanzkrise misstrauen viele Amerikaner diesem Zusammenspiel von Politik und Banken. Die verlockende Alternative: digitale Währung, die gefälligst niemand regulieren soll – der künftige Präsident Trump macht nun ja selbst in Krypto.
So wie sich die Amerikaner herzlich wenig für den verwilderten Garten oder das Wohlbefinden des anderen beim Smalltalk interessieren, so gering ist das Interesse an Problemen der anderen, vor allem an finanziellen: Niemand würde auf die „How are you“-Frage antworten, dass er nicht wisse, wie er seine Arztrechnungen oder die Einkäufe im Supermarkt bezahlen könne. Die Reaktion darauf wäre ein mitleidiger Blick sowie der stille Gedanke: Du Vollidiot, hättest du mal Discover-Aktien oder Bitcoin gekauft oder in eine von Elon Musks Firmen investiert. It’s the economy, stupid! Selbst schuld.
Und wenn sich rausstellen sollte, dass Trump doch kein Finanzgenie ist, sondern, ähem, stupid? Denn das gehört eben auch zur Wahrheit: Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die Ego-Rechnung gar nicht aufgeht. Dass jene, die aus wirtschaftlichen Überlegungen Trump ihre Stimme gegeben haben, genau die sein werden, die von seiner Politik benachteiligt werden. Was also, wenn Trump die amerikanische Wirtschaft an die Wand fährt und die anderer Länder an den Abgrund führt? Wenn die Inflation wieder aufflammt, Handelskriege ausbrechen, die Staatsverschuldung ins Unermessliche steigt?
Die egoistische Antwort lautet: Na und? Dann hätte diese Regierung eben versagt, wie viele Regierungen vor ihr. Es wäre dann ein stärkerer Beweis dafür, dass man sich beim Streben nach Glück eben einzig auf sich selbst verlassen kann in diesem Land. Auch die Reaktion vieler Nicht-Trump-Wähler funktioniert übrigens nach diesem Schema: Soll der doch machen, was er will! Wir in Kalifornien kümmern uns um uns. Ich sorge einfach dafür, dass meine eigene Familie finanziell abgesichert ist.
Das ist Trotz, gewiss, es ist aber auch: Egoismus. Sie fragen nun mal immer, zuerst und zuletzt und auch mittendrin, was sie für sich selbst tun können. Die Zeiten von Kennedy, die sind eben lange vorbei.